“Märchenstunde für Putin-Versteher”: Antifa stört Veranstaltung in der Stadtbibliothek

Am Dienstagabend ist die Schriftstellerin Daniela Dahn in der Stadtbibliothek in Halle (Saale) aufgetreten. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte zu der Veranstaltung mit dem Titel „Im Krieg verlieren auch die Sieger“ aufgerufen. Rund 20 ANTIFA-Vertreter haben die Lesung gestört, “Krieg dem Kreml” gerufen und Ukraine-Flaggen geschwenkt. Zudem wurde ein Flugblatt verteilt:

„Das erste Opfer der Friedensbewegung ist die Wahrheit

Wir könnten ein ganzes Dossier über die Lügen, Halbwahrheiten, Fehlschlüsse und Manipulationen schreiben, mit denen Daniela Dahn ihr Publikum beglückt. Wir wollen allerdings weder die Aufgabe von Dahns Lektorat übernehmen, noch verfallen wir dem Irrtum, es ginge Dahn und ihrem Publikum auch nur im Ansatz um Logik und Wahrheit. Ein Beispiel für Dahns kreativen Umgang mit der Wahrheit soll genügen: Am 11.11.2022 auf ihrer Lesung im Theater Ost – und vielleicht auch heute wieder – behauptete sie, Ende März 2022 habe der Krieg Russlands gegen die Ukraine beendet werden können und allein die Intervention des Westens habe dies verhindert, denn “Boris Johnson war der erste westliche Politiker der nach Kiew reiste und dort Präsident Selenskij und anderen eingeredet hat: Bloß keinen schlechten Friedensschluss, keinen Waffenstillstand.”

Johnson reiste allerdings erst am 9. April nach Kiew, als die Verhandlungen in Istanbul längst als gescheitert gelten konnten. Die Ukraine hatte aufgrund des Massakers in Butscha die Friendensverhandlung bereits am 2. April als “schwierig” bezeichnet und Russland kündigte die Verhandlungen am 7. April auf, da es den Donbass und die Krim, die einen Sonderstatus erhalten sollten, als “nicht verhandelbar” deklarierte.

In Dahns Lesungen zum Ukrainekrieg kommt die ukrainische Regierung immer nur als Befehlsempfänger anderer Staatsoberhäupter und nur selten als eigenständiger Akteur vor. Ohnehin dient der Ukrainekrieg ihr nur dazu, über ihr Lieblingsthema zu sprechen: Die vermeintliche Kriegstreiberei der Nato und der USA. Während Selenskij und die Ukraine nur als neoliberale Büttel des Westens bei Dahn erscheinen, hat sie für Putin allzu menschelnde Worte übrig und zitiert dessen selbstverherrlichende Autobiographie, um zu begründen, warum dieser gar kein Kriegstreiber sein könnte: “Dort erzählt er, dass sein Vater Matrose in Sewastopol auf der Krim war und sich vor deutschen Truppen stundenlang im kalten Herbstmoor vergrub, nur durch ein Schilfrohr atmend, das feindliche Hundegekläff neben ihm. Wie er später mit zerschossenem Bein auf Krücken nach Hause kam und sah, wie Sanitäter Leichen aus der Eingangstür trugen, darunter Putins Mutter. Wie ihm schien, als atme sie noch, wie er darauf bestand, sie zurück in die Wohnung zu bringen, sie tatsächlich gesund pflegte, während der kleine Bruder starb …” Wenig dagegen hört man von Dahn und der Friedensbewegung davon, dass es in Putins Rede zur “Anerkennung der Donbassrepubliken” von Februar 2022 weniger um die Nato und den Westen als um die Wiederherstellung des russischen Großreiches in den Grenzen vor 1917 ging.

Kurzgesagt: Dahn und der Friedensbewegung von links und rechts geht es weder um die Ukraine, noch um Frieden, geschweige denn um das Vermeiden von Leid.

Germany First! und Selfies für den (inneren) Frieden

Dahn und ihr Publikum stehen dagegen wie Alice Schwarzer, Sahra Wagenknecht und der Rest der heutigen “Friedensbewegung” exemplarisch für eine besonders deutsche Haltung, der es unter dem Vorwand von Humanismus und Pazifismus zuvorderst um deutsche Interessen und sich selbst geht, und die sich mit ihren Gegnern Olaf Scholz und Friedrich Merz lediglich darüber zerfleischen, mit welchen Mitteln und im Schatten welcher Weltmacht sie deutsche Interessen glauben besser durchsetzen zu können. Weder bei der Besetzung der Krim, noch nach dem Massaker von Butscha trieb die Empörung sie daher massenweise auf die Straße. Hört man der “Friedensbewegung” hierzulande genau zu, lässt sich ihre Kernforderung schnell zusammenfassen: Osteuropa soll endlich den Platz einnehmen, den die Deutschen seit jeher für die Länder und Menschen dort vorgesehen haben. Als schiere Verhandlungs- und Taktierungsmasse für die eigenen Interessen und Pufferzone gegen Russland sind die Menschen dort gerade gut genug. Geradezu aggressiv reagiert man auf jeden Ausdruck von Autonomie und Eigenständigkeit, so verklärt man die West- orientierung der Ukraine seit dem Euromaidan zum fiesen Komplott westlicher Regierungen oder gar zum faschistischen Putsch.

Die große Unterstützung für ukrainische Flüchtlinge stand und steht, gerade auch bei den heute in der Stadtbibliothek versammelten Linken-Sympathisanten, keineswegs in Widerspruch zu dieser Großherrlichkeit. Wo man sonst jedes Vernunftargument mit dem Verweis auf irgendwelche Betroffenen- perspektiven zu ignorieren können glaubt, ist es umso zynischer, wie gerade bei den Friedensprotesten weniger die ukrainischen Flüchtlinge als die eigene Selbstinszenierung im Mittelpunkt steht. Kurz nach Kriegsausbruch im April 2022 diente das Leid der Ukrainer nur als Anlass für die eigen PR: So posierte die halbe Linken-Prominenz von Halle lächelnd dabei, wie man eine Wohnung für ukrainische Flüchtlinge im Rahmen einer Wohnungspatenschaft einrichtete. Eine “Selbstverständlichkeit”, so ihr Stadtvorsitzender Jan Rötzschke. So selbstverständlich, dass sie mit einer Pressemitteilung und Fotos begleitet werden musste, damit sie niemand übersieht. Auch damit befand sich die Linke mal wieder auf der Höhe der Zeit: Zuhauf sind nämlich auch jene Leute, die heute meinen, dass die Ukraine doch nun endlich einmal die weiße Fahne hissen könnte, in ihren privaten Autos an die ukrainische Grenze gefahren, um „Hilfsgüter” zu bringen oder flüchtige Ukrainer mitzunehmen. Die „Helfenden“ dokumentierten dabei ihre Reisen in den sozialen Netzwerken und berichteten von ihren schweren Fahrten, aber auch davon, wie gut sie sich dabei fühlten, etwas Gutes zu tun. Nur selten ging es in diesen Berichten tatsächlich um das Leiden der Überfallenen.

Half all der blinde Aktionismus 2022 noch dabei, das eigene Entsetzen zu kompensieren und schien es kurzzeitig so als ob die Putinversteher wenigstens aus Pietät ruhiggestellt wären, so ist von diesem Entsetzen kaum noch etwas übrig. Die Zahl der „Friedensfreunde“ mehrt sich und tritt den Ukrainern umso bevormundender gegenüber, je stärker Gaspreise, Inflation und drohende Rezession nun auch den eigenen Wohlstand bedrohen und nicht mehr nur Leib und Leben der Überfallenen gefährdet ist. Die Linke Halle entschied sich etwa zum Jahrestag des Angriffskriegs bewusst für eine eigene Kundgebung in Konkurrenz zur von Ukrainern mitorganisierten Demonstration auf dem Marktplatz. Nichts anderes drückt sich in Wagenknechts und Schwarzers Manifest für den Frieden aus, wenn sie Olaf Scholz auffordern, “Schaden vom deutschen Volk abzuwenden.” Das Opfer soll endlich aufhören sich zu wehren, damit seine Nachbarn nicht durch sein Gebrüll um den Schlaf gebracht werden.

Solidarität mit den Menschen in der Ukraine gegen ihre Peiniger!“