Talkshows, Fußballstadien, Hörsaal, Königshof – Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute: Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen 2023

Schloss und Hörsaal waren die Streitarenen der Vergangenheit, heute sind es eher Screens und Fußballstadien. Ist sonst alles gleich geblieben? Signifikante Streitfälle in historischen und gegenwärtigen Streitarenen öffnen vertraute bis überraschende Assoziationsräume und laden in der Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale) zur Reflexion über Standpunkte und Verhaltensweisen in unserer heutigen Streitkultur ein. Die Schau wird am Samstag eröffnet und ist bis 4. Februar kommenden Jahres zu sehen.
Streit ist ein essentieller Bestandteil unseres Lebens, unserer Gesellschaft und unserer Demokratie. Im digitalen Zeitalter verhandeln wir heute die rote Linie und damit die Grenzen des Sagbaren neu. Die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen 2023 nimmt die Vertreibung des Philosophen Christian Wolff (1679–1754) aus Halle vor 300 Jahren zum Anlass, um der gegenwärtigen Diskussion über die Streitkultur eine Tiefenstruktur zu geben. In Sprechblasen an der Wand soll die Derbheit der damaligen Debatten wiedergegeben werden. “Wir wollen mit der hohen Gelehrtheit brechen”, sagte Kurator Holger Zaunstöck dazu.
Die Besucher:innen erwartet auf 350qm Ausstellungsfläche im Historischen Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen eine aufwändig inszenierte Zeitreise mit ausgesuchten, wertvollen historischen Objekten und medialen Streitereignissen, welche Geschichte geschrieben haben. In den wörtlich zu nehmenden Streitarenen werden sie aktiv in die Streitfälle hineingezogen. Ein Streitkaraoke lädt dazu ein, realen Streitigkeiten die eigene Stimme zu verleihen, ein interaktives Spiel lässt sie Position beziehen, wenn sie Musikstücken der Avantgarde und Popkultur vernichtende Kritiken zuordnen müssen.
Der Rundgang startet mit der Skulptur »Vogel Selbsterkenntnis«, einem Bildmotiv, das im 17. und 18. Jahrhundert europaweit verbreitet war: Aus einem menschlichen Haupt wachsen Hals und nach unten geneigter Kopf eines Vogels, dessen Schnabel den Menschen in die Nase zwickt. »Er führt einen der wahrscheinlich wichtigsten Aspekte in der Geschichte des Streitens vor Augen: das Sich-an-die-eigene-Nase-Fassen, die kritische Selbstreflexion. Wir selbst sind seit jeher dafür verantwortlich, wie wir miteinander streiten«, fassen die Kurator:innen Prof. Dr. Holger Zaunstöck und Claudia Weiß zusammen.
In den sich anschließenden Ausstellungsräumen führt die Ausstellungsgestaltung der hallischen Agentur FORMIKAT die Besucher:innen mitten hinein in drei historische und drei zeitgenössische Streitarenen, in denen signifikante Streitfälle aufgeführt werden.
Auf dem Marktplatz, einem der zentralen städtischen Orte der Frühen Neuzeit für Kommunikation, Streitgeschehen und Strafpraxis, wird unter anderem der »Streit um die Hosen« geführt: Auf historischen Grafiken ringen Mann und Frau um die Hosen als Sinnbild für die Herrschaft in Beziehung und Haus. Schandmantel, Schandmaske, Prangertafeln und Lästerstein dürfen nicht fehlen. Die zweite Streitarena Universität widmet sich dem Streitfall zwischen Christian Wolff und seinen Kontrahenten an der Theologischen Fakultät in Halle. Die Höfe stellen die dritte frühneuzeitliche Streitarena dar: Voltaire und Friedrich II. zeigen, wie fließend die Grenze zwischen Sachkritik, persönlichen Angriffen und Verunglimpfungen verlaufen kann.
Dem 18. Jahrhundert werden drei zeitgeschichtliche Streitarenen gegenübergestellt. Die Arena Screen stellt mittels unterschiedlicher Bildschirmformate prägnante Beispiele aus Kino, Fernsehen und den Sozialen Medien vor – von »Spiel mir das Lied vom Tod« bis zur Girlgroup Tic Tac Toe. Sound Stage , die zweite zeitgeschichtliche Arena, widmet sich den akustischen Streitkulturen. In ihr wird ein Bogen vom klassischen Konzertsaal mit dem Streitfall der ›Neuen Musik‹ bis zu auditiven Äußerungen von sozialen Konflikten und Instrumentenzerstörungen geschlagen. Auch Talkshow-Auftritte beispielsweise aus Britt und Hans Meiser sind zu sehen, ebenso der “Zickenkrieg” von “Germanys Next Topmodel”. Der hallesche Rapper FAKT hat ein eigens für die Ausstellung komoiniertes Rap-Stück beigesteuert. Das Fußballstadion schließlich ist die dritte Arena, die Streit in unserer Gegenwart behandelt. Mit dem Stadion als Ort kontroverser Fußball- und Fankultur kommt ein Raum des Streitens in den Blick, der hierfür berühmt und berüchtigt sowie in den Medien überaus präsent ist.
»Rückgreifend auf das Konzept der Invektivität bietet der Rundgang Arena für Arena Perspektiven auf soziale, mediale, sprachlich-rhetorische und körperliche Mechanismen und Phänomene der Provokation, Beleidigung und Herabsetzung und zeigt deren Folgewirkungen auf die Streitkultur auf«, ordnet der Historiker Holger Zaunstöck das Ausstellungskonzept in die aktuelle Forschung ein und ergänzt: »So regt die Schau auch nach dem Besuch zum Nachdenken und Diskutieren über das eigene Streiten an.« Man wolle die Gegenwart in der Geschichte spiegeln, denn die Geschichte des Streitens sei keine Erfindung der Gegenwart, sagt Zaunstöck.
JAHRESAUSSTELLUNG DER FRANCKESCHEN STIFTUNGEN
Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute
18. März 2023 bis 04. Februar 2024, Di – So, feiertags 10 – 17 Uhr
Franckeplatz 1, 06110 Halle (Saale)
Eintritt 6 Euro, erm. 4 Euro, bis 18 Jahre frei (ab April 2023 8 Euro, erm. 5 Euro, bis 18 Jahre frei)
WISSENSCHAFTLICHER BEGLEITKATALOG
Streit. Menschen, Medien, Mechanismen im 18. Jahrhundert und heute.
Herausgegeben im Auftrag der Franckeschen Stiftungen von Claudia Weiß und Holger Zaunstöck. Halle 2023 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 39).
200 S., 155Abb., € 28,00; ISBN 978-3-447-11977-1
Mit einer Einführung der Kurator:innen Prof. Dr. Holger Zaunstöck und Claudia Weiß und Beiträgen des hochspezialisierten interdisziplinären Expert:innen-Teams zur Ausstellung aus der Geschichts-, Medien- und Literaturwissenschaft sowie der Medienlinguistik und Kunstgeschichte
BEGLEITPROGRAMM ZUR JAHRESAUSSTELLUNG (Auswahl)
Alle Informationen auf www.francke-halle.de
13. April 2024, 18 Uhr
Streitfragen im LeoLab für junge Menschen
Workshop mit Dr. Hans Nenoff (Universität Jena) zur Dynamik von Konflikten und Interventionsmöglichkeiten
22. April 13 – 17 Uhr
Streit zwischen den Zeilen
Lyrikworkshop für junge Erwachsene im LeoLab mit der Autorin Nadja Küchenmeister
Anmeldung unter stark@francke-halle.de
24. April, 19 Uhr
Wer hat hier die Hosen an?
Ein literarisch-historischer Abend zu Geschlechterrollen und -konflikten im 18. Jahrhundert mit der Autorin Angela Steidele
6. Mai, 18 – 24 Uhr
Liebe und Zwietracht im Apfelhain
Museumsnacht Halle-Leipzig mit Illuminationen, Führungen, Mitmachangeboten, Lyrik-Lesungen, Live-Musik
21. Juni, 18 Uhr
Meinungsfreiheit und die Grenzen des Sagbaren
Streiten Sie über das Streiten mit Bürger:innen und Expert:innen nach dem Vorbild der Unterhaus-Debatte




















Es sollte wohl heißen:
Man wolle die Gegenwart in der Geschichte spiegeln, denn die Kultur des Streitens sei keine Erfindung der Gegenwart, …