Halles Grüner Norden wehrt sich: Über 100 Menschen protestieren gegen Bebauung in Tornau
Der Wind pfeift kühl über die Kuppe, graue Wolken schieben sich über den Himmel, die Jacken sind zugezogen, Mützen tief ins Gesicht gezogen. Trotzdem sind an diesem Sonntagnachmittag mehr als hundert Menschen gekommen. Ihr Ziel: einer der höchsten natürlichen Punkte der Stadt Halle (Saale) – die Seebener Berge. Die Bürgerinitiative Halles Grüner Norden hat eingeladen, und viele sind dem Ruf gefolgt. Zwischen knirschendem Laub und dem leisen Schnauben von Eseldame Lotte, die den kleinen Zug anführt, geht es den Franzosensteinweg entlang.
Für Iris Bereuther von der Bürgerinitiative ist der Zuspruch ein Erfolg. Wochenlang hatte ihr Team für den Spaziergang geworben. „Dass so viele gekommen sind, trotz des Wetters, zeigt, wie wichtig den Menschen dieser Ort ist“, sagt sie am Rande der Veranstaltung.
Natur erleben – und verstehen
Die BI hat entlang des Weges vier neue Infotafeln angebracht. Sie erzählen von der Geschichte und den Besonderheiten der Landschaft, von alten Flurbezeichnungen, verschollenen Gebäuden und verborgenen Arten. Wer weiß schon, dass es einst gegenüber des heutigen Funkturms an der Kreuzung Tornauer Weg / Kirschallee eine Gaststätte gab? Die „Bergschenke“ war ein beliebtes Ausflugsziel, bis sie verschwand. Heute erinnert nur noch die Topografie an den einst belebten Ort.
Wo früher Bänke und Schirme standen, hat die Bürgerinitiative inzwischen einen kleinen Rastplatz eingerichtet – ein Symbol für ihr Anliegen, den Raum zu bewahren, nicht zu bebauen.

Wissenschaftliche Stimmen zur Artenvielfalt
Professor Dr. Holger Deising und Dr. Thomas Kreuter begleiten den Spaziergang. Beide sind seit Jahren mit der Erforschung der hiesigen Natur vertraut. Auf einer Anhöhe bleiben sie stehen, der Blick reicht weit über Felder und den nördlichen Stadtrand. Deising spricht von einem „reichen Naturschatz“. Mehr als 120 Käferarten sind hier nachgewiesen, Wachteln brüten im hohen Gras, und auf 40 Hektar Ackerfläche gedeihen Böden von besonderer Qualität. Diese Fläche, sagt Kreuter, könne theoretisch rund 4.000 Menschen ein Jahr lang ernähren.
Eine Besonderheit ist die „Hallesche Tanzfliege“ (Platypalpus hallensis), ein winziges, räuberisches Insekt, das hier erstmals entdeckt wurde – und dessen wissenschaftlicher Name der Stadt ein kleines Stück biologischer Unsterblichkeit beschert hat.
Neben der Vielfalt der Arten spielt die Topografie der Seebener Berge auch für das Stadtklima eine Rolle. Durch das Gefälle strömt kühle Luft von Norden in die Stadt hinein. „Diese Frischluftschneise wirkt wie eine natürliche Klimaanlage“, erklärt Deising. „Sie trägt dazu bei, dass Halle im Sommer nicht überhitzt.“ Wenn aber – wie derzeit geplant – bis zu 80 Prozent der Fläche versiegelt würden, würde das, so Deising, „wie ein riesiger Backofen“ wirken.

Politik zwischen Naturschutz und Wachstum
Die geplante Bebauung der Seebener Berge, genauer gesagt des Gebiets bei Tornau, beschäftigt die Stadtpolitik seit Jahren. Die Bürgerinitiative lehnt sowohl ein Gewerbegebiet als auch den Bau einer Justizvollzugsanstalt (JVA) an diesem Standort ab. „Wir halten die Naturlandschaft hier für so wertvoll, dass sie erhalten werden muss“, sagt der Landtagsabgeordnete und Stadtrat Hendrik Lange (Linke) beim Spaziergang. „Der Artenreichtum und die Bedeutung für das Stadtklima sind zu groß, um diesen Naturraum jetzt zuzubetonieren.“
Seine Parteikollegin Katja Müller stimmt ihm zu. Auch die Grünen sehen die Pläne kritisch. Wolfgang Aldag, ebenfalls Stadtrat und Landtagsabgeordneter, betont: „Die naturräumliche Ausstattung ist einmalig. Wir setzen uns dafür ein, dass die Seebener Berge als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen werden.“
Etwas differenzierter äußern sich die Stadträte Ferdinand und Friedemann Raabe von Volt und MitBürger. Ferdinand Raabe verweist auf den Stadtratsbeschluss von 2019, in dem festgelegt wurde, dass es an diesem Standort kein Gewerbegebiet geben soll. „Wir halten es für falsch, diesen Beschluss jetzt einfach aufzuheben“, sagt er. Die Stadtverwaltung solle erst darlegen, was sich seitdem an der Faktenlage geändert habe. Solange das nicht geschehen sei, werde seine Fraktion einer Aufhebung nicht zustimmen. Raabe plädiert zudem für einen offenen Dialog zwischen Verwaltung, Bürgerinitiative und Anwohnern.

Ein Stadtspaziergang als politisches Signal
Was als gemütlicher Sonntagsspaziergang beginnt, entwickelt sich im Verlauf zu einem politischen Statement. Iris Bereuther spricht von einem „wichtigen Tag für den Norden Halles“. Ihr Ziel ist klar: die dauerhafte Sicherung des Areals als Landschaftsschutzgebiet.
Die Stimmung bleibt trotz des Windes gelassen. Zwischen Stopps an den neuen Infotafeln und kleinen Gesprächen am Wegrand entsteht das Bild einer Bürgerbewegung, die sich nicht als laut, sondern als beharrlich versteht.
Die andere Seite: Argumente für ein Gewerbegebiet
Doch die Befürworter der Pläne waren an diesem Tag nicht anwesend. Ihre Positionen sind dennoch klar formuliert.
Die SPD-Fraktion betont, dass das Gebiet Tornau nur dann weiterverfolgt werden soll, wenn dort ein „grünes Gewerbegebiet für Zukunftstechnologien“ entsteht. Das Ziel: neue Arbeitsplätze und eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts Halle – ohne klassische Industrie, dafür mit innovativen Betrieben, die nachhaltige Technologien entwickeln oder anwenden.
Allerdings will die SPD keine vorschnellen Entscheidungen. Zunächst müsse geklärt werden, ob an dem Standort auch eine neue Justizvollzugsanstalt entstehen soll. Erst danach sei eine abschließende Bewertung möglich. Die Fraktion warnt davor, „voreilige Signale“ zu senden, die als generelle Absage an die JVA verstanden werden könnten. Die Haltung: offen, aber abwartend – mit dem Fokus auf eine gründliche Prüfung und Beratung in den zuständigen Ausschüssen.
Deutlich entschiedener zeigen sich die Fraktionen Hauptsache Halle, AfD und CDU. Für sie ist die Entwicklung neuer Gewerbeflächen eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Andreas Wels, Fraktionsvorsitzender von Hauptsache Halle, formulierte es unlängst so: „Es ist richtig und notwendig, dass Halle alle verfügbaren Potenziale nutzt, um neue Gewerbeflächen zu entwickeln. Wer Wachstum blockiert, gefährdet die Zukunft unserer Stadt.“ Halle brauche, so Wels, „Mut zum Wachstum“.
Die Argumentation dieser Fraktionen stützt sich vor allem auf ökonomische Daten. Halle liege bei den Gewerbesteuereinnahmen deutlich hinter Magdeburg, und der Mangel an großen Gewerbeflächen erschwere Neuansiedlungen. Das Areal in Tornau biete eine der letzten Möglichkeiten, größere zusammenhängende Flächen zu entwickeln.
Auch die CDU unterstützt grundsätzlich den Vorschlag des Oberbürgermeisters, das Gebiet zu prüfen. Sie betont jedoch, dass die Bürger des Stadtteils Tornau „nicht übergangen“ werden dürften. Transparenz und Beteiligung seien entscheidend, um Akzeptanz zu schaffen.
FDP und Freie Wähler wiederum plädieren ebenfalls für eine intensive Beratung in den Gremien, bevor Entscheidungen getroffen werden.
Ein gespaltenes Stadtparlament
Damit ist das Lager im Stadtrat klar gespalten. Während Linke, Grüne und Volt/MitBürger das Vorhaben ablehnen oder zumindest aussetzen wollen, sprechen sich SPD, CDU, AfD, Hauptsache Halle, FDP und Freie Wähler für eine Prüfung und mögliche Entwicklung aus.
Das Projekt Tornau wird damit zu einer Grundsatzfrage: Soll Halle wachsen – und wenn ja, auf wessen Kosten? Oder soll die Stadt ihre letzten grünen Räume schützen – auch, wenn dies ökonomische Chancen einschränkt?
Zwischen Frischluft und Flächenbedarf
Die Diskussion spiegelt ein Dilemma wider, das viele Städte beschäftigt: der Spagat zwischen Klimaschutz, Lebensqualität und wirtschaftlicher Entwicklung. Halle wächst – wenn auch langsam –, gleichzeitig sind verfügbare Gewerbeflächen rar. Der Druck auf die Verwaltung, neue Standorte zu erschließen, steigt.
Doch Tornau ist ein besonderer Ort. Die Landschaft nördlich der Stadt gilt seit Jahrzehnten als wichtige Kaltluftschneise. Fachleute verweisen darauf, dass die Luftströme von dort bis in die Innenstadt wirken. Eine großflächige Bebauung könnte dieses System empfindlich stören.
Der Blick nach vorn
Am Ende des Spaziergangs an diesem kühlen Sonntag bleibt bei vielen Teilnehmenden ein Gefühl zwischen Sorge und Hoffnung. Sorge, weil die Pläne für ein Gewerbegebiet konkrete Formen annehmen. Hoffnung, weil der Zuspruch zeigt, dass sich viele Hallenserinnen und Hallenser für ihre Stadtlandschaft engagieren.
Die Bürgerinitiative Halles Grüner Norden will in den kommenden Monaten weitere Veranstaltungen organisieren, um auf die Bedeutung der Seebener Berge aufmerksam zu machen. Eine Petition für die Ausweisung als Landschaftsschutzgebiet läuft bereits.
Wie es weitergeht, hängt nun vom Stadtrat ab. Noch in diesem Jahr, voraussichtlich in der November-Sitzung, soll über die Aufhebung des Beschlusses von 2019 beraten werden. Ob die Mehrheit dafür zustande kommt, ist offen. Die BI hat schon angekündigt, in der Einwohnerfragestunde zu Beginn der Sitzung aufzutreten.













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