»Moderne Jugend?«. Franckesche Stiftungen mit Schau zum Bauhaus-Jubiläum
Die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen widmet sich als einzige Ausstellung im großen Bauhaus-Jubiläum dem Thema Jugend in der Zeit zwischen 1890–1933. Ein unbekannter Quellenschatz aus der Wende vom 19. zum 20. Jh. im Archiv der Franckeschen Stiftungen liegt der Schau zugrunde. Vom Kurator Prof. Dr. Holger Zaunstöck und seinem Team wurden 170 Einzelbiografien von Jugendlichen in detektivischer Kleinstarbeit rekonstruiert, 40 handschriftliche Lebensläufe von Schülerinnen und Schülern der Stiftungsschulen für die Ausstellung ausgewertet sowie 300 Fotos recherchiert, interpretiert und digitalisiert. Unter den 400 Ausstellungsobjekten schärfen die originalen Kunstwerke vor allem der Neuen Sachlichkeit und des Expressionismus zum Thema Jugend den Blick auf die Region, in der sich zur Jahrhundertwende Tradition und Moderne rieben, darunter Originalwerke u.a. von Oskar Schlemmer (1888–1943), Heribert Fischer-Geising (1896–1984), Wilhelm Lachnit (1899–1962) und Erna Lincke (1899–1989). Die Leihgaben kommen u.a. aus dem Albertinum (Staatliche Kunstsammlungen Dresden), dem Max-Pechstein-Museum in Zwickau, den Städtischen Sammlungen Freital, den Staatlichen Museen Berlin-Kupferstichsammlung, dem Bauhaus-Archiv Berlin, der Stiftung Bauhaus Dessau und dem Kunstmuseum Moritzburg in Halle. Die Ausstellungsobjekte werden durch zeitgenössische Film- und Tondokumente in aufwändigen Medieninstallationen begleitet. In den sieben Ausstellungsräumen des Historischen Waisenhauses wird so das breite Spektrum der Adoleszenz aufgezeigt, die Erwartungen von Gesellschaft, Schule, Familie und die Hoffnungen, Ideale, Konflikte in den Lebensentwürfen sowie Zukunftsperspektiven der jungen Menschen. »Die Ausstellung ermöglicht es jedem Besucher, sich in das junge Leben in der Zeit der Klassischen Moderne einzufühlen und mit diesem Wissen die eigene Biografie und die Gegenwart zu befragen«, lädt der Kurator Holger Zaunstöck ein.
Die aufwändige Recherche zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen hat bisher nie gezeigte Schätze aus dem Stiftungsarchiv ans Tageslicht gebracht. Fotos zeigen sowohl den Schulalltag im Klassenzimmer, die Beschäftigung mit Medien und Kunst, aber auch die Freizeit beim Sport oder verrückten Festen. Einen beeindruckend persönlichen Einblick in die Lebenswelt der Jugendlichen offenbaren die handgeschriebenen Lebensläufe von Schülerinnen und Schülern, die sie in Vorbereitung auf das Abitur anfertigten und die die Umbrüche der Zeit widerspiegeln: die beginnende Emanzipation und Individualisierung, die Wirkungen und Möglichkeiten der Massenmedien, die Wunden und Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und ebenso die Entstehung der Kunst der Klassischen Moderne. Diese Themen wurden zu den Leitmotiven der Ausstellungsräume. Zu den besonderen Überraschungsmomenten zählte die Entdeckung der 1932 vom ehemaligen Oberrealschüler der Franckeschen Stiftungen und späteren Kunsterzieher sowie Illustrator Wilhelm Krieg (1911–2001) erstellten Grafikfolge über seinen ehemaligen Mitschüler in Halle, Wilhelm Kamrath (1908–1989): »Der Tänzer Wilmo Kamrath in 6 Original-Radierungen«. Der bekannte Tänzer, Choreograph und Tanzpädagoge war zwischen 1919 und 1926 Schüler an der Lateinischen Schule in Halle und lebte im Waisenhaus. Ausdruckstänzer und -tänzerinnen wie Hedwig Nottebohm (1886–1968), die modernen Tanz an ihrem in Halle ansässigen Bewegungsinstitut lehrte, inspirierten Kamrath, vom Turnen zur Kunst zu wechseln. Hier feierte er schnell große Erfolge.
Der Befund überrascht: Die Franckeschen Stiftungen sind bekannt für eine enge Verbindung mit dem preußischen Herrscherhaus und waren in dieser Tradition auch im Kaiserreich sowie in der Weimarer Republik patriotisch, kaisertreu und konservativ ausgerichtet. Gleichzeitig wurde den in den Schulen lernenden Jugendlichen Raum gelassen für die Ideen der Moderne. Die Quellen zeigen: Sie begeisterten sich nicht nur für die neuen Medien, das Radio oder das Kino, tanzten und feierten auf dem Stiftungsgelände zur Swingmusik. Die Kunst des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit inspirierte sie bis hin zu eigenem künstlerischen Schaffen mit hoher Professionalität.
Zur Ausstellungseröffnung am 22. September 2019 im Freylinghausen-Saal kommt mit dem Tanzzyklus »Afectos humanos« von Dore Hoyer (1911–1967), getanzt von Nils Freyer (Berlin), der Ausdruckstanz noch einmal in die Franckeschen Stiftungen. Hoyer gilt als die wichtigste deutsche Solistin des modernen Tanzes von den 1930er bis zu den 1960er Jahren und tanzte u. a. in der Gruppe von Mary Wigman (1886–1973).
KATALOG
Moderne Jugend? Jungsein in den Franckeschen Stiftungen 1890–1933. Herausgegeben von Holger Zaunstöck und Claudia Weiß unter Mitarbeit von Tom Gärtig und Claus Veltmann. Halle 2019
Neue Forschungen zur Stiftungsgeschichte zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik. Mit sieben Hauptessays von Jens Elberfeld, Leonard Helten, Kerrin Klinger, Katrin Moeller, Olaf Peters, Barbara Stambolis und Claudia Weiß. Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 36
Ca. 248 S. Ca. 210 Abb., € 28,00; ISBN 978-3-447-11193-5 (liegt zur Ausstellungseröffnung vor)
Neueste Kommentare