ORGACID: vor 80 Jahren haben amerikanische Soldaten die Kampfstoff-Fabrik der Nazis in Ammendorf besetzt – auch heute noch wartet eine Bürgerinitiative auf eine Sanierung des verseuchten Areals

„Chemie ist wie Kochen – man darf nur nicht den Löffel ablecken.“ Mit diesem bitter-ironischen Spruch leitete Erich Gadde am Mittwoch eine Veranstaltung ein, die sich mit einem der düstersten Kapitel hallescher Geschichte befasste. Der 82-jährige ehemalige Mitarbeiter des Plastikwerks Ammendorf kämpft seit Jahren mit seiner Bürgerinitiative Orgacid für Aufklärung und Sanierung eines vergifteten Erbes – des ehemaligen Chemiewerks Orgacid, wo die Nationalsozialisten einst Senfgas produzierten.
Die Vergangenheit ist tief im Boden vergraben – buchstäblich. Noch heute lassen sich im Grundwasser Rückstände der hochgiftigen Kampfstoffe nachweisen. Eine Sanierung des kontaminierten Geländes ist jedoch weiterhin nicht in Sicht.
80 Jahre nach der Besetzung durch US-Truppen
Am 16. April 1945 besetzten 30 amerikanische Soldaten das Werk und beendeten die Produktion. Der historische Tag jährte sich am Mittwoch zum 80. Mal – Anlass genug für Gadde, Unterstützer und Interessierte an die Eisenbahnstraße im Stadtteil Ammendorf zu laden, unweit des einstigen Werksgeländes. „Die Rote Armee begann 1946 mit dem Abbau der Anlagen – wahrscheinlich nicht sehr sorgsam“, so Gadde. Die Spuren, die das Werk hinterlassen hat, sind bis heute nicht beseitigt.
Ein „menschenverachtendes Zeugnis“ deutscher Geschichte
Für Gadde ist Orgacid nicht nur ein Umweltproblem, sondern ein Mahnmal: „Ein menschenverachtendes Zeugnis deutscher Geschichte.“ Viele Jahre führte der Schulweg der Kinder direkt am verseuchten Gelände vorbei – „wie durch eine Schleuse“, beschreibt er es. Und auch Mitarbeiter späterer Betriebe auf dem Gelände könnten den Altlasten zum Opfer gefallen sein. Sein Engagement sei eine Frage des Respekts gegenüber den Betroffenen.

Chancen durch den Strukturwandel
Mit dem Kohleausstieg und den daraus resultierenden Mitteln des Strukturwandel-Fonds sieht Gadde eine neue Chance für das vergessene Gelände. Er fordert, endlich Maßnahmen zur Sanierung zu ergreifen – denn zu tun gibt es viel. Von einem unterirdischen Bunker und acht Zisternen berichtet er, von denen heute noch fünf existieren. Auch ein altes Stasi-Protokoll zur Zumauerung der Anlage liegt vor.
Warnungen ignoriert – Jahrzehntelanges Wegsehen
Schon in der DDR wurde die Problematik erkannt: Zwischen 1955 und 1960 führte das Amt für Toxikologie in Leipzig erste Untersuchungen durch – mit dem Ergebnis, das Areal für 50 Jahre zu sperren und einzuzäunen. Geschehen ist: nichts.
Erst nach der Wende kam Bewegung in die Sache. Die spätere Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados – damals Umweltdezernentin – veranlasste erste Gutachten. Das Fresenius-Institut nahm 19 Bohrproben, entdeckte unter anderem Chlorbenzol. Ein weiteres, 120 Seiten starkes Gutachten liegt inzwischen vor – veröffentlicht wurde es nie. Gadde durfte es zwar einsehen, Fotos machen war ihm verboten.
„Solange wir Stimmen haben, werden wir sie nutzen“
Doch der pensionierte Chemiker lässt nicht locker. „Solange wir Stimmen haben, werden wir sie nutzen, um auf diese Umweltstraftat hinzuweisen“, sagt er entschlossen. Unterstützung bekommt er aus der Politik – zumindest teilweise.
CDU-Antrag trifft auf Widerstand der Stadtverwaltung

Im Stadtrat macht die CDU derzeit Druck. Ein Antrag fordert eine Gefährdungsanalyse sowie die Einsetzung eines Fachgremiums. Der Umweltausschuss hat bereits zugestimmt, doch aus der Stadtverwaltung kommt Gegenwind. Der Antrag greife angeblich in den „übertragenen Wirkungskreis“ der Verwaltung ein, heißt es. Sollte der Stadtrat zustimmen, solle Oberbürgermeister Alexander Vogt Widerspruch einlegen, berichtet CDU-Stadtrat Hans-Joachim Berkes über Forderungen aus der Verwaltung.
Dabei geht es nicht nur um Aufarbeitung, sondern auch um Verantwortung: Wer ist heute zuständig für die Entsorgung der Altlasten? Die Stadt hat das Gelände nach der Wende parzelliert und verkauft – inzwischen gibt es neun verschiedene Eigentümer, einer davon ist unbekannt.
Auch Umweltausschuss-Mitglieder von Linken und SPD waren anwesend und haben damit gezeigt, dass auch sie sich mit dem CDU-Antrag solidarisieren.

Ein Schandfleck mit Geschichte – und Zukunft?
Was bleibt, ist ein toxisches Erbe – politisch wie ökologisch. Egbert Gadde wird weiter kämpfen, für die Umwelt, für Transparenz und für Gerechtigkeit. Denn wie er sagt: „Das Gelände ist nicht nur ein Schandfleck. Es ist ein Weckruf.“
Ergänzung zur Geschichte:
Die Orgacid GmbH wurde 1934 gegründet und war eine der größten deutschen Chemiewaffenfabriken im Zweiten Weltkrieg. In Halle-Ammendorf produzierte sie rund 26.000 Tonnen Senfgas (S-Lost). Nach Kriegsende besetzten US-Truppen das Werk, übergaben es jedoch bald an die Sowjets, die das Gelände teilweise demontierten und sprengten. Acht unterirdische Zisternen blieben erhalten.
1957 wurde das Gelände erstmals abgesperrt, doch erst nach der Wende wurden größere Altlasten bekannt – darunter giftige Rückstände und Kampfstoffspuren. Eine Totalsanierung wurde 1991 empfohlen, aber nie umgesetzt. Noch heute sind chemische Abbauprodukte im Grundwasser nachweisbar.
Nach Angaben der Inspektoren der Streitkräfte der Vereinigten Staaten anlässlich der Übergabe an die sowjetische Besatzungsmacht befanden sich am 9. Mai 1945 an flüssigen Kampfstoffen auf dem Gelände:
- 445 Tonnen Sommerlost (Anteil an Schwefel-Lost 88 %)
- 174 Tonnen Winterlost (Gemisch aus Schwefel-, Propyl- und Sauerstofflost)
- 6 Tonnen Stickstofflost
Nach Angaben des Deutschen Bundestags liegen keine gesicherten Aufzeichnungen über die Vernichtung der Kampfstoffe vor. Etwa 558 t wurden im Kohlekraftwerk des Plastwerks Ammendorf sowie im Chemiewerk Dessau-Kapen verbrannt, die restlichen 67 t wurden verbrannt, nachdem sie gemeinsam mit kampfstoffangereichertem Wasser 1953/1954 nach Kapen verbracht wurden. Wikipedia
Die Stadt verarscht doch weiter die Menschen, hier wird nichts in die Hand genommen. Auch wenn das Versprechen ist bis Ende 2026 das zu klären. Wird hier die nächsten 80 Jahre nichts passieren.
Weshalb auch? Lost ist nicht mehr vorhanden, die restlichen Abbauprodukte zerfallen nach und nach.
Nach Grundwasser bohrt dort keiner, zumindest nicht offiziell.
Das Gelände will will eh keiner haben.