Kommentar: Eine neue Qualität der Bedrohung – Warum der Verfassungsschutzbericht 2024 uns alle alarmieren muss

Selten war ein Verfassungsschutzbericht für Sachsen-Anhalt so eindeutig wie der in diesem Jahr. Und selten war das Bild, das darin gezeichnet wird, so düster. Was Innenministerin Dr. Tamara Zieschang und der Leiter des Landesverfassungsschutzes, Jochen Hollmann, diese Woche vorgestellt haben, ist kein reines Zahlenwerk – es ist ein dramatischer Befund über den Zustand der demokratischen Kultur in Sachsen-Anhalt im Jahr 2024. Dieser Bericht zeigt in aller Deutlichkeit: Der Extremismus wächst nicht nur – er verändert sich, wird jünger, digitaler, aggressiver. Und er bedroht unsere Demokratie in einem bisher ungekannten Ausmaß.

Rechtsextremismus auf dem Vormarsch – auch durch die AfD
Besonders gravierend ist der Anstieg des rechtsextremistischen Personenpotenzials: plus 19,4 Prozent innerhalb eines Jahres – das ist nicht weniger als ein politischer Erdrutsch. Mit rund 4.000 Personen gehört Sachsen-Anhalt inzwischen zu den Hotspots rechtsextremer Mobilisierung. Fast drei Viertel dieses Potenzials sind inzwischen in Parteien organisiert. Und unter diesen Parteien ist es ausgerechnet der Landesverband der AfD, der den größten Anteil daran hat. 2.580 Mitglieder – das sind 370 mehr als im Vorjahr – werden in Sachsen-Anhalt mittlerweile vom Verfassungsschutz als Teil des extremistischen Spektrums geführt. Wer jetzt noch versucht, zwischen dem „bürgerlichen Protestwähler“ und dem „rechtsextremen Funktionär“ zu unterscheiden, verschließt bewusst die Augen vor der Realität.

Es ist nicht mehr zu übersehen: Die AfD ist längst nicht nur eine rechtspopulistische Partei mit radikalen Rändern, sie ist der institutionalisierte Kern der extremistischen Bewegung in weiten Teilen Ostdeutschlands geworden – auch in Sachsen-Anhalt. Dass eine solche Partei in Teilen staatlich alimentiert, parlamentarisch legitimiert und von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung gewählt wird, ist eine demokratische Absurdität, die gefährlicher nicht sein könnte.

Junge Menschen im Visier – Der digitale Kampf um die Köpfe
Besonders erschreckend ist, dass der Rechtsextremismus – wie auch der Islamismus und der Linksextremismus – gezielt junge Menschen anspricht. Der Bericht dokumentiert das Auftauchen neuer, gewaltorientierter Jugendgruppen, die sich im Netz radikalisieren, über Telegram oder Discord vernetzen und gezielt gegen LGBTQ-Menschen, politische Gegner und Minderheiten hetzen. Gruppen wie „Jung & Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ sind keine pubertären Protestzirkel, sondern Keimzellen einer digitalen Radikalisierung, die reale Gewalt androhen – und zum Teil auch umsetzen. Der Schulhof ist längst nicht mehr der Ort der Radikalisierung – es ist das Smartphone.

Diese Entwicklung betrifft nicht nur den Rechtsextremismus. Auch islamistische Kreise erreichen mit jugendaffiner Online-Propaganda und salafistischen Influencern hohe Reichweiten auf Plattformen wie TikTok. Und auf der linken Seite zeigt sich eine Renaissance des antiimperialistisch verbrämten, israelfeindlichen Linksextremismus – ebenfalls getragen von jungen Menschen, die im Nahostkonflikt ein Ventil für eine diffuse Systemkritik suchen.

Was wir hier erleben, ist nicht nur ein Anstieg extremistischer Milieus – es ist eine schleichende Verschiebung gesellschaftlicher Koordinaten. Die Gefahr besteht nicht nur in Gewalttaten, sondern in einer Normalisierung von Intoleranz, Antisemitismus, Gewaltbereitschaft und Demokratieverachtung, die zunehmend in den Alltag einsickert.

Staatliches Handeln? Viel zu zögerlich.
Dass der Verfassungsschutz diese Entwicklungen beobachtet und dokumentiert, ist wichtig – aber es reicht bei weitem nicht. Die politische Reaktion auf diese Bedrohungslage bleibt bislang erschreckend blass. Es mangelt an klarer Sprache, an konsequenter Abgrenzung und – vor allem – an nachhaltiger Prävention. Seit Jahren wird über Demokratieförderprogramme diskutiert, doch sie werden immer wieder gekürzt, blockiert oder unter Haushaltsvorbehalt gestellt.

Wo bleiben die Investitionen in politische Bildung, in digitale Medienkompetenz, in zivilgesellschaftliche Netzwerke? Warum wird Extremismusprävention in Schulen oft nur auf das Engagement einzelner Lehrerinnen und Lehrer gestützt? Und warum gelingt es den Sicherheitsbehörden noch immer nicht, effektiv gegen organisierte Desinformation, hybride Bedrohungen und die Einflussnahme durch ausländische Geheimdienste vorzugehen?

Ein Weckruf an uns alle
Der Verfassungsschutzbericht 2024 ist ein Alarmsignal – an die Politik, an die Schulen, an die Zivilgesellschaft, an uns alle. Er zeigt: Die demokratische Mitte darf sich nicht mehr auf ihrer moralischen Überlegenheit ausruhen. Sie wird bereits angegriffen – ideologisch, digital, zunehmend auch physisch. Und sie muss sich endlich wehren – mit Haltung, mit Bildung, mit Gesetz und mit Konsequenz.

Denn eines ist klar: Die Demokratie stirbt nicht von heute auf morgen. Aber sie kann schleichend ausgehöhlt werden – durch Gleichgültigkeit, Wegsehen und politisches Kalkül. Die Zahlen des diesjährigen Berichts zeigen: Dieser Prozess hat längst begonnen. Jetzt ist die Zeit, ihn aufzuhalten.