Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übergibt Tätigkeitsbericht: 3.154 Anträge auf Einsicht in die Stasi-Unterlagen

Die Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Birgit Neumann-Becker, hat dem Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt, Dr. Gunnar Schellenberger, am 19. März 2024 ihren Tätigkeitsbericht 2023/2024 fristgerecht übergeben. Auf 171 Seiten informiert sie über die Arbeit ihrer Behörde in den Bereichen Opferberatung, Aufarbeitung und Forschung, Erinnerungsarbeit und Bildung.
Als großen Erfolg für die Betroffenen von SED-Unrecht wertet Neumann-Becker den Härtefallfonds des Landes für Opfer des SED-Unrechts, der nun im zweiten Jahr zur Verfügung stand. Damit konnte, so Neumann-Becker, in 2023 zwölf Betroffenen in finanziellen Notlagen konkret geholfen werden. Denn gerade SED-Opfer befinden sich häufig in wirtschaftlich prekärer Lage, weil sie etwa durch die Verfolgung gesundheitlich geschädigt oder traumatisiert wurden oder weil das SED-Regime ihnen den angestrebten Berufsweg versagt hatte. In Zeiten von Inflation und steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen verschärft sich deren finanzielle Notlage weiter. Konkrete Unterstützung wurde durch die (Mit)Finanzierung von Mobilitätshilfen und von Maßnahmen zur Erhaltung des selbstbestimmten Wohnens gewährt. Der Härtefallfonds wurde damit zu 93 % ausgeschöpft. Der Bedarfsstau ist groß. So konnten im vergangenen Jahr 23 Anträge nicht berücksichtigt werden. Es sei deshalb, so Neumann-Becker, ein wichtiges politisches Zeichen, dass der Landtag die Mittel für den Härtefallfonds für das Haushaltsjahr 2024 auf 100.000 Euro verdoppelt hat.
Die Novellierung der SED-Unrechtsbereinigungsgesetze hat seit 2019 neue Rehabilitierungsmöglichkeiten für politisch Verfolgte eröffnet. Die Zahl der persönlichen und telefonischen Beratungen der Landesbeauftragten blieb 2023 mit rund 2.700 auf annähernd gleich hohem Niveau. Beraten wurde schwerpunktmäßig zu Fragen der Rehabilitierung ehemaliger Heimkinder und deren Biografieklärung, zu Haft, zu Folgeansprüchen nach Rehabilitierung sowie zu gesundheitlichen Folgeschäden. Die Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden für Betroffene von SED-Unrecht bleibt weiterhin schwierig. Insgesamt wurden bis 2023 1.321 Anträge auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden gestellt und davon 254 bewilligt. Im vergangenen Jahr wurden in Sachsen-Anhalt sieben neue Anträge gestellt (bei 29 noch offenen Fällen aus den Vorjahren), davon wurden sieben abgelehnt und zwei bewilligt.
Obwohl bereits im Jahr 2019 vom Deutschen Bundestag ein Prüfauftrag an die Bundesregierung ergangen war, ist hier keine Verbesserung eingetreten. Die Landesbeauftragte unterstützt deshalb die Forderung der SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag zur Einführung einer Vermutungsregelung, die eine erhebliche Erleichterung der Verfahren bedeuten würde. Nach den Erkenntnissen aus Medizin und zeitgeschichtlicher Forschung sind die Ziele und Härten des Strafvollzugs in SBZ und DDR bekannt. Die verweigerte Anerkennung der Gesundheitsschäden ist deshalb nicht sachgemäß und wird von den Betroffenen zu Recht als Affront erlebt.
Die Landesbeauftragte arbeitet eng mit dem Stasi-Unterlagen-Archiv zusammen. Die Zahl der Akteneinsichtsanträge war 2021 im Zuge der Pandemie stark gesunken und hat sich 2022 mit 2.711 Anträgen in diesem Bereich stabilisiert. Im Jahr 2023 setzte sich diese Zunahme mit 3.154 Anträgen deutlich fort. Das bundesweit im Jahr 2023 erstmalig durchgeführte Ausbildungsmodul zum SEDUnrecht für Rechtsreferendare hat sich als erfolgreich erwiesen. Es wurde in Zusammenarbeit mit dem Landesjustizprüfungsamt, der Landeszentrale für politische Bildung, der Gedenkstättenstiftung und dem Stasi-Unterlagen-Archiv entwickelt und an vier dreitägigen Pflichtseminartagen in Halle und Magdeburg durchgeführt, an dem insgesamt mehr als einhundert Rechtsreferendarinnen und Rechtsreferendare teilnahmen. Die Kursmodule werden im April 2024 fortgesetzt.
Die Landesbeauftragte hat auch 2023 mehrere Forschungsprojekte initiiert und gefördert. Dazu gehören Forschungen zum Aufstand vom 17. Juni 1953 in Sachsen-Anhalt, eine Arbeit zu den medizinischen, sozialen und pädagogischen Bedingungen in den Jugendhäusern Halle und Dessau sowie eine Biografie zu Herbert Priew (studentischer Widerstand am 17.Juni 1953 in Halle). Inhaltlicher Schwerpunkt der Informationstätigkeit war der Aufstand vom 17. Juni 1953, der sich 2023 zum 70. Mal jährte. Dazu entstand, gefördert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Landeszentrale für politische Bildung, die multimediale Plakatausstellung „MENSCHEN RECHT FREIHEIT PROTEST. Der Aufstand vom 17. Juni in Sachsen-Anhalt“, die in verschiedenen Orten des Landes (Magdeburg, Halle, Bitterfeld-Wolfen, Dessau, Wernigerode, Schönebeck, Haldensleben, Salzwedel) gezeigt wurde. Zur Ausstellung ist ein Begleitheft sowie pädagogisches Material erschienen. Dadurch und durch den multimedialen Ansatz sollen insbesondere junge Menschen für das Thema interessiert werden.
Eine zentrale Aufgabe der Landesbeauftragten ist es, die Erinnerung an das SED-Unrecht und zivilgesellschaftliches Engagement in diesem Bereich zu fördern. Die Landesbeauftragte unterstützt, fördert und kooperiert deshalb auf vielfältige Weise mit Opferverbänden, Initiativen und auf diesem Gebiet tätigen Vereinen, etwa bei Informations- oder Gedenkveranstaltungen. Im Mai 2023 unterstützte sie die Anbringung des Gedenkzeichens „Die letzte Adresse“ für den Verleger und ersten Nachkriegsbürgermeister Arthur Jubelt in Zeitz, der 1947 im sowjetischen Speziallager Buchenwald ums Leben gekommen war. Am 20. März erinnert die Landesbeauftragte an den 70. Jahrestag der Hinrichtung von Ernst Jennrich im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Aufstands vom 17. Juni 1953 und am 23. März an den von der Staatssicherheit verursachten Unfalltod des französischen Oberstabsfeldwebel Philippe Mariotti vor 40 Jahren in Halle. Die digitale Karte „Orte der Repression in Sachsen-Anhalt von 1945 bis 1990“, ein Projekt von Mitarbeitern im Freiwilligen Sozialen Jahr, enthält nun 878 Datensätze und wurde um Schauplätze im Zusammenhang mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 ergänzt. Die technische Umsetzung erfolgt weiter zuverlässig in Kooperation mit dem Landesamt für Vermessung und Geoinformation Sachsen-Anhalt. Die Landesbeauftragte unterstützt die lokale Erinnerungsarbeit am Grünen Band. In Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung und der Gedenkstättenstiftung erschien der aufwändig produzierte Band „Grenzschicksale. Als das Grüne Band noch grau war“ mit 30 Zeitzeugenerinnerungen an die innerdeutsche Grenze. Zu dem Buch, das dieser Tage in zweiter Auflage erscheint, fand eine Lesereise durch verschiedene Orte in Sachsen-Anhalt statt. Diese Reise wird im Jahr 2024 fortgesetzt.
Auch im vergangenen Jahr hat die Landesbeauftragte wieder Schulprojekte zu Menschenrechtsfragen in der DDR, zur kritischen Aufarbeitung des Kommunismus in Osteuropa und zur Opposition in Belarus durchgeführt. Zudem bot sie an mehreren Schulen in Sachsen-Anhalt Zeitzeugengespräche an. Dadurch wurden insgesamt gut 1.350 Schülerinnen und Schüler erreicht.
Ein besonderer Höhepunkt im Jahr war der vom 8. bis 10. September 2023 durch die Landesbeauftragte ausgerichtete jährliche Bundeskongress der Konferenz der Landesbeauftragten, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der SED-Opferbeauftragten beim Deutschen Bundestag in Wernigerode. Thema war: Stagnation und Wandel. Repression und Alltag in der Ära Honecker. Ein Höhepunkt für die rund 200 Teilnehmer war der Festvortrag von Irina Scherbakowa, dem Gründungsmitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Der Bundeskongress wurde mit Mitteln des Landes Sachsen-Anhalt und durch den Landtagspräsidenten persönlich unterstützt. Das zweitägige Halle-Forum ist eine feste Größe im Austausch zwischen ehemaligen Häftlingen in Sachsen-Anhalt geworden, das überregional ausstrahlt. Am Halle-Forum 2023 nahmen ca. 80 Personen, überwiegend ehemalige politische Häftlinge teil. Es beschäftigte sich mit dem Thema „Proteste hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘. Reaktionen in der DDR und Zusammenarbeit der Geheimdienste der sozialistischen Länder“.
Auch in Zukunft wird sich die Landesbeauftragten-Behörde besonders für die Anerkennung und Unterstützung der Opfer von SED-Unrecht einsetzen und für weitere Verbesserungen bei den Rehabilitierungs- und Unterstützungsmöglichkeiten für die Opfer werben. Dabei ist die besondere soziale und gesundheitliche Not der Betroffenen zu berücksichtigen, in die sie unverschuldet als Folge politischen Machtmissbrauchs geraten sind. „Der Einsatz für die Opfer der SED-Diktatur und die Diktatur-Aufarbeitung ist in die Gegenwart und Zukunft gerichtet, er ist inzwischen auch zu einer Frage der Sicherheit geworden.“, ist Neumann-Beckers Fazit. „An der Geschichtsumschreibung in Russland und dem daraus folgenden Krieg gegen die Ukraine ist der hohe Wert von Demokratie und Freiheitsrechten zu erkennen. Dazu wird die Behörde gemeinsam mit unseren Partnern auch in Zukunft ihren Beitrag leisten.“
Birgit Neumann-Becker: „Im Jahr 2023 ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Sachsen-Anhalt erneut um große Schritte vorangebracht worden. Die Unterstützung von Frauen und Männern, die in der DDR von politischem Unrecht betroffen waren, wurde durch Aufarbeitung, Beratung und finanzielle Unterstützung fortgesetzt. Mit den Mitteln des Härtefallfonds konnte die Not von zwölf Betroffenen von SED-Unrecht gelindert werden. Aber der Bedarfsstau ist so groß, dass 23 Anträge nicht berücksichtigt werden konnten. Deshalb begrüßt die Landesbeauftragte, dass der Landtag für das Haushaltsjahr die Mittel des Härtefallfonds auf 100.000 € verdoppelt hat. Der Bedarf an persönlicher Beratung ist stabil, die Problemlagen der Betroffenen verändern sich nicht zuletzt auch altersbedingt. Deshalb wird auch 35 Jahre nach der Friedlichen Revolution kontinuierlich Unterstützung angeboten, die durch Kooperationsprojekte mit der Otto-von-Guericke-Universität fachlich verstärkt werden. Persönliche Vorort-Beratung wird in Sachsen-Anhalt flächendeckend gewährleistet und nachgefragt. 2023 wurden zahlreiche Bildungs- und Informationsveranstaltungen wie die Ausstellung zum Aufstand vom 17. Juni 1953, Lesungen, Zeitzeugengespräche, Vorträge- und Diskussionsveranstaltungen durchgeführt. Diese fanden an zahlreichen Orten des Landes statt und stießen auf großes Interesse. Auch der Bedarf an Bildungsimpulsen, um die Öffentlichkeit über die SED-Diktatur zu informieren, ist unverändert groß. Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Herausforderungen bleibt die Erkenntnis gültig: Die Aufarbeitung unserer Vergangenheit ist eine in die Zukunft gerichtete Aufgabe.“
Was ist heute anders? Bekommen heute Andersdenkende auch Fonds.
Bewusst wird wie damals gesteuert, blos anders. Die Folgen von heute sind noch nicht ,,beabsichtigt “ Dotiert oder werden nicht Öffentlich.
Du hast offensichtlich null Ahnung da du es nie mit machen musstest 😉
Ich bin 1963 in der DDR Geboren und du? Ich denke ich habe genug Einblick. Es gab andersdenkende damals UND heute. Damals wurde man zur Arbeit bewegt, heute muss man sich erst finden um überhaupt erstmal was anzufangen. Also wählt man die Partei die das ,,fördert “
Heute wird man als rechts bezeichnet wenn man diese Politik kritisiert. Was hat sich geändert???
Lotte, du wirst nur als rechts bezeichnet, weil du rechts bist. Rechts sein ist nicht verboten. Steh einfach dazu.
…, alles „SED-Opfer“ in „prekärer wirtschaftlicher Lage.“ Endlich ist eines der letzten Geheimnisse gelüftet. Wie war/ist das eigentlich mit den Betroffenen des einstigen Radikalenerlasses, der bundesdeutschen Kinderheime und wie ist es heute mit ständigen Nachrichten über den stetigen Anstieg psychisch und physischer Erkrankungen? Das hat doch wohl nicht etwa mit den heutigen Zuständen und Verhältnissen zu tun?
Die SED war in der alten BRD (vor 1989) nur ganz wenig aktiv.
Für deine psychischen Erkrankungen stehen dir aber heute bundesweit alle Einrichtungen offen.
Die Vergangenheit interessiert mich nicht. Die Zukunft ist gefährdet !