BI Paulusviertel: Halles älteste Bürgerinitiative wurde vor 30 Jahre gegründet
Die epochemachenden Ereignisse im Herbst 89, über die an anderer Stelle ausreichend berichtet wurde, eröffneten nicht nur gedanklich völlig neue Perspektiven, sondern sie brachten auch die Hoffnung mit sich, dass tatsächlich etwas geändert werden könne. Nicht mehr nur Einzelne, sondern die Masse unterschiedlichster Menschen und Charaktere kamen zu dem gleichen Schluss: „So kann es nicht mehr weiter gehen!“ Und nachdem nun einmal die Würfel ins Rollen gekommen waren, machte sich die Stimmung breit: „Wir machen jetzt was Besseres!“ Die Bürger nutzten freudig die neuen Möglichkeiten zur Eigeninitiative und organisierten sich nicht nur in Parteien und Vereinigungen, um die politischen Bedingungen zu verändern – sondern sie bildeten auch Bürgerinitiativen, die sich Veränderungen im engsten Umfeld vornahmen. Vielen schwebte vor, eine „westliche“ DDR zu entwickeln, aus beiden Systemen das Gute zusammenzufügen und so in eine bessere Gesellschaft aufzubrechen.
Als erstes – und darum richtungweisend für viele andere – gründete sich die Bürger-initiative im Paulusviertel. Anfang November 1989 setzten sich einige engagierte Einwohnerinnen und Einwohner zusammen, um etwas gegen den drohenden Verfall des Viertels, das damals rund 6000 Einwohner hatte, zu tun und gemeinsam Ideen für die Entwicklung und Verschönerung des Stadtteils und zur Verbesserung der Lebensbedin-gungen seiner Bürger zu sammeln und umzusetzen. Deshalb organisierten sich die Bürger jetzt selbst. Den unmittelbaren Anstoß zur Gründung gab damals die junge Zahntechnikerin Rita Müller (heute Junghahn), der der trostlose Zustand dieses schönen alten Wohngebietes rings um die Pauluskirche mit seinen Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende keine Ruhe ließ. Bröckelnde Fassaden, Bauschutt und Unrat auf Gehwegen und in ehemaligen, jetzt verwilderten oder verwüsteten Vorgärten, leer stehende Wohnungen, ungepflegte Grünanlagen waren bedrückend. Rita Junghahn setzte sich mit einigen Gleichgesinnten in ihrer Wohnung in der Victor-Scheffel-Straße 15 zusammen und die kleine Gruppe überlegte, was unter den neuen Bedingungen zu tun sei, um die ganz alltäglichen Lebensbedingungen für alle Menschen im Paulusviertel zu verbessern. Sich geradezu aufdrängende Themen waren vor allem der schlechte Zustand der Häuser und die mangelnde Vergabe von leer stehenden Wohnungen, das allgemeine soziale Umfeld, die ökologischen Probleme und die mangelnde Ordnung und Sauberkeit im Stadtviertel.
Die Teilnehmer des ersten Treffens beschlossen, sich selbst zu organisieren und möglichst viele Gleichgesinnte um sich zu versammeln. In einer Bürgerinitiative wollte man gemeinsam daran gehen, die Umstände zu ändern, und das mit Hilfe aller, die dazu bereit und willens waren. Es folgte eine Zeit der Gespräche, Überlegungen und Vorbereitungen für ein weiteres Treffen, bei dem die angerissenen Punkte konkretisiert und nach Möglichkeiten gesucht werden sollte, möglichst schnell möglichst viel umzusetzen und viele Mitstreiter zu gewinnen.
Am 22. November 1989 gab es dann das nächste Treffen, wieder in der Wohnung von Rita Junghahn in der Victor-Scheffel-Straße. Thema war vor allem der Problembereich „Soziales Umfeld“. Die Aufgaben wurden präzisiert und der Themenkatalog erweitert. Um möglichst viele Problempunkte parallel abarbeiten zu können, wurden verschiedene Arbeitsbereiche aufgestellt. Unter den Anwesenden wurden zehn Sprecher gewählt, die die unmittelbar nächsten Schritte einleiten sollten und für die übergeordnete Organisation verantwortlich waren.
Am 6. Dezember 1989 wandte sich die Bürgerinitiative zum ersten Mal an die breite Öffentlichkeit und lud nicht nur mit Handzetteln, sondern auch über Pressemitteilungen zu einer allgemeinen Bürgerversammlung in die Wilhelm Koehnen Schule in der Schleiermacherstraße ein. 230 Bürger folgten dem Aufruf und sorgten für angeregte Diskussionen, warfen neue Fragen auf und besprachen Lösungsansätze. Das anvisierte Ziel war erreicht: Die angesprochenen Probleme wurden öffentlich diskutiert, die Resonanz bei den Bewohnern war groß und viele erklärten sich bereit in den Arbeitsgruppen mitzuarbeiten. Darunter waren auch Architekten, Stadtplaner und Pfarrer, die sich alle angesprochen fühlten und sich engagieren wollten. Schließlich kamen 100 Mitglieder in den Arbeitsgruppen zusammen, um die Aufgaben in den verschiedenen Bereichen zu lösen.
Die Bürgerinitiative Paulusviertel ist damit die älteste Bürgerinitiative in Halle! Seit der Gründung war Hanna Haupt in der Bürgerinitiative engagiert und seit 1990 deren Vorsitzende, Für die Bürgerinitiative kandidierte sie bei den ersten freien Kommunal-wahlen im Mai 1990 und war seitdem – also 24 Jahre – im Hallenser Stadtrat tätig gewesen,
Nach dem Tod ihrer langjährigen Vorsitzenden Hanna Haupt im Juni 2015 beriet die Mitgliederversammlung im November 2016 ausführlich über die Situation im Paulus-viertel und die Möglichkeiten für eine Fortführung der Arbeit der Bürgerinitiative.
Es wurde einmütig festgestellt, „dass die Entwicklung im Paulusviertel in den letztern 25 Jahren den weiteren Einsatz der Bürgerinitiative nicht mehr sinnvoll erscheinen lässt – die Voraussetzungen und Zielstellungen, die im Herbst 1989 zur Gründung führten, sind heute nicht mehr ergeben“. Der Vorstand der Bürgerinitiative schlug daher der Mitgliederversammlung vor, die Arbeit des Vereins Bürgerinitiative Paulusviertel e.V. zu beenden und den Verein zum Ende des Jahres 2016 aufzulösen.
Wieder ein Beispiel, wie Mangel die Leute zusammenschweißt und Wohlstand sie auseinandertreibt.
Wenn wieder jemand fragt, was für eine Gesellschaft wir eigentlich sind oder sein wollen, dann an die Zeit vor und nach 1989 denken.