Zwischen Baustelle und Mahnmal: Halle würdigt die Opfer des KZ-Außenlagers Mötzlich
Am Volkstrauertag herrschte an der Straßenbahn-Endhaltestelle „Frohe Zukunft“ kein Baustellenlärm, denn an diesem Sonntag stand der Platz ganz im Zeichen der Vergangenheit. Bei Sonnenschein versammeltem sich rund 30 Bürgerinnen und Bürger, Kommunalpolitiker, Vertreter der Kirchen und Initiativen, um an jenem Ort innezuhalten, an dem einst eines der dunkelsten Kapitel hallescher Geschichte geschrieben wurde. Zwischen Absperrzäunen und Baufahrzeugen ragt das schlichte Mahnmal des halleschen Bildhauers Bernd Kleffel auf – ein stiller, aber deutlicher Hinweis auf die tausenden Zwangsarbeiter, die hier während des Nationalsozialismus für die Siebel-Flugzeugwerke schuften mussten.Für viele von ihnen – Männer und Frauen aus Polen, Tschechien, Russland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden – wurde dieser Ort zur buchstäblichen Endstation. „Für sie gab es keine ‘Frohe Zukunft’, für sie war es die Endstation“, heißt es in der Gedenkrede. Die Menschen, deren Namen einst „fein säuberlich, mit Schreibmaschine getippt“ in der Verwaltung abgeheftet wurden, starben im Mötzlicher Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Das Lager war eines von insgesamt vier in der Umgebung und bestand aus überfüllten Holzbaracken, in denen die Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen lebten und zur Arbeit in den Flugzeugwerken gezwungen wurden.
Die Stimmen der Gegenwart – Erinnerungen und Mahnungen
Vor dem Denkmal spricht René Rebenstorf, Beigeordneter für Stadtentwicklung, Umwelt und Sicherheit. Dass das ehemalige Verwaltungsgebäude der Siebelwerke heute eine Grundschule ist, berührt ihn besonders – schließlich ist es die Schule, die er selbst als Kind besucht hat. Seine Worte schlagen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Er gehöre mit fast fünfzig Jahren zu einer Generation, „die im Frieden aufgewachsen ist. Die auch für DDR-Verhältnisse einen hohen Wohlstand genießen konnte, dem es nicht an Lebensmitteln oder irgendetwas gemangelt hat“. Der Frieden, sagt er, sei für ihn „immer allgegenwärtig gewesen“. Und genau diesen Frieden wünscht er auch den Kindern, die heute in der Schule von damals unterrichtet werden. „Dass Gewalt immer geächtet wird, Gewalt gegen Menschen, egal welcher Herkunft, egal, welcher sexuellen Orientierung oder egal welcher Hautfarbe. Wir sind alles Menschen, wir haben nur diese eine Erde, und diese eine Erde muss uns wichtig sein.“ Es sind Worte, die in Zeiten globaler Krisen, Kriege und erneuter Militarisierung eine tiefe Resonanz entfalten.

Pfarrer Schmelzer: Erinnerung an industrielle Gewalt
Pfarrer Martin Schmelzer richtet den Blick auf die industrielle Seite der NS-Unrechtsherrschaft. „Flugzeuge wurden hier hergestellt“, erinnert er eindringlich, „auch mit dem Ziel und dem Zweck, menschliches Leben zu zerstören. Umzubringen. Zu töten.“ Tatsächlich stand die Dessauer Straße – damals noch Boelckestraße – einst voller Tragflächen, die produziert und montiert wurden. Die Straße war gesperrt, eine sichtbare Kulisse des Kriegsapparats. Schmelzer ruft zudem ein Datum in Erinnerung, das nicht nur britische, sondern auch deutsche Geschichte geprägt hat: den Luftangriff auf das englische Coventry vor 85 Jahren. „515 Flugzeuge haben in der Operation ‘Mondscheinsonate’ die Stadt in Schutt und Asche gelegt.“ Die Ruinen der mittelalterlichen Kathedrale stehen bis heute, wiedererkennbar an den aus ihren Zimmermannsnägeln gefertigten Nagelkreuzen, die weltweit als Zeichen der Versöhnung verteilt wurden. Ein solches steht auch in Halles Heilig-Kreuz-Kirche. Doch der Pfarrer zieht noch einen weiteren Bogen: Auch heute würden wieder viele Rüstungsgüter in Deutschland produziert. „Nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine gehören wir als Deutsche mit zu den Export-Weltmeistern was Rüstungsindustrie betrifft.“ Vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung wirkt dieser Satz wie ein Warnsignal.
„Vater, vergib“ – das Versöhnungsgebet von Coventry
Im Zentrum des Gedenkens steht an diesem Tag auch das bekannte Versöhnungsgebet des Coventry-Dompropstes, dessen Worte Schmelzer verliest: „Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten… Vater, vergib.“ Zeile um Zeile benennt das Gebet die Ursachen menschlicher Gewalt: Hass, Besitzgier, Neid, Ausbeutung, Gleichgültigkeit. Es endet mit der Aufforderung, „untereinander freundlich“ zu sein und einander zu vergeben. Im Zusammenspiel mit dem Ort – einem ehemaligen Produktionsstandort für Kriegsflugzeuge und gleichzeitig einem Lager, in dem Häftlinge litten und starben – entfaltet das Gebet eine eindrückliche Wirkung.
Das Mahnmal und die schwierige Aufarbeitung der Stadt
Das Denkmal selbst, eine Skulptur mit der Inschrift „Den Opfern des KZ-Außenlagers Buchenwald Halle-Mötzlich August 1944-März 1945“, wurde erst 2009 offiziell enthüllt. Vorausgegangen war eine kontroverse Debatte über die historische Verantwortung der Stadt. Ein Artikel im „Stern“ hatte den Anstoß gegeben. Als der Journalist Nico Wingert bei der Stadtverwaltung nachfragte, wurde zunächst behauptet, es habe in Mötzlich kein KZ gegeben – lediglich ein Zwangsarbeiterlager der Siebelwerke. Diese Darstellung erwies sich als falsch. Der Hobbyhistoriker Albert Osterloh, der mit immensem Engagement zur Geschichte recherchiert hatte, zeigte, dass rund um Mötzlich insgesamt vier Lager existierten, darunter das KZ am Goldberg. Es war eines von 170 Außenlagern des Konzentrationslagers Buchenwald. Insgesamt gab es in Halle sogar 114 Lager während des Nationalsozialismus. Osterloh war auch bei der Enthüllung des Denkmals präsent. Sein Werk ist ein Beispiel dafür, wie wichtig private Initiative und zivilgesellschaftliches Engagement für die lokale Erinnerungskultur sind.
Zwangsarbeit in den Siebelwerken: Vom Industriearbeitsplatz zum Todesort
Schon vor Kriegsbeginn arbeiteten in den Siebelwerken neben deutschen Beschäftigten zahlreiche angeworbene Arbeiter aus osteuropäischen Staaten. Sie produzierten Flugzeugteile für die Luftwaffe. Doch mit Beginn des Krieges änderte sich ihre Situation schlagartig. Aus den „Fremdarbeitern“ wurden Zwangsarbeiter. Sie durften nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren. In Halle trafen später auch norwegische, schwedische, französische und spanische Kriegsgefangene ein, sowie – und das ist der entscheidende Punkt – Häftlinge aus dem Konzentrationslager Buchenwald. Insgesamt sind 23 Transporte dokumentiert. Die Verschärfung des Kriegsverlaufs machte die Siebelwerke zu einem Zentrum der Rüstungsproduktion, wodurch der Einsatz extrem ausgebeuteter Arbeitskräfte stetig zunahm. Die humanitäre Katastrophe wurde besonders während der alliierten Bombenangriffe 1944 und 1945 deutlich. Während deutsche Arbeiter den Schutz des Bunkers am Posthorn nutzen konnten, blieben die Zwangsarbeiter nahezu schutzlos. Viele von ihnen starben. Ein besonders tragischer Fall ist der der beiden polnischen Häftlinge Viktor Zebulski und Edmund Czerwinski. Sie flohen während eines Bombenangriffs – ein verzweifelter Versuch, das eigene Leben zu retten. Doch ein Anwohner stellte sie, brachte sie zurück ins Lager, wo sie später erhängt wurden.
Die Täter: Unaufgeklärt bis heute
Was aus den Verantwortlichen der Lager wurde, ist größtenteils unbekannt. Einer der bekannten Namen ist der eines SS-Unterscharführers: Johann Pflicht. Ehemalige Häftlinge beschrieben ihn als äußerst gewalttätig. Nach Kriegsende tauchte er unter. Zwischen 1967 und 1975 wurde intensiv nach ihm gesucht, jedoch ohne Erfolg. Männer gleichen Namens, die man ermittelte, hatten Alibis oder lebten nicht mehr. Aus Sicht der Täter blieb die Geschichte Halles damit weitgehend unaufgearbeitet – eine Lücke, die bis heute schmerzt.
Nach dem Krieg: Flüchtlinge in den Baracken
Als amerikanische Truppen im Frühjahr 1945 in Halle einmarschierten, endeten die Lager. Doch die Baracken standen weiterhin – und wurden bald zum Zufluchtsort für Menschen, die selbst alles verloren hatten. Aus Ostpreußen, dem Sudetenland und anderen Teilen des zerschlagenen Deutschen Reiches strömten Flüchtlinge nach Halle. Trotz Versuchen der Stadt, den Zustrom zu begrenzen – etwa durch das Entfernen von Straßenschildern oder das Durchfahrenlassen von Zügen – wuchs ihre Zahl rapide. Im Juli 1945 wohnten 200 Flüchtlinge in den ehemaligen Zwangsarbeiter-Baracken, im November waren es 770, im Januar 1946 über 830. Die Siebelwerke wollten die Baracken der Stadt sogar für 40.000 Mark verkaufen, bevor der Betrieb enteignet und die Lager schließlich abgebaut wurden. Viele Überreste leben dennoch in der Gegenwart weiter: Türen aus den Baracken sollen in Mötzlicher Häusern verbaut worden sein. Die Wege der „Gartenanlage Freundschaft“ sind frühere Lagerwege, ihre Küche heute eine Gaststätte. Die Vergangenheit zeigt sich in kleinen, aber beständigen Spuren.











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