„Zivilisatorische Katastrophe“ – Gedenken zum Volkstrauertag auf dem Gertraudenfriedhof in Halle (Saale): Frieden und Demokratie auch heute keineswegs selbstverständlich
Ein kühler Novembervormittag liegt über dem Gertraudenfriedhof in Halle (Saale). Sonnenschein wich dicken Wolken, das Laub raschelt unter den Schritten der Besucherinnen und Besucher. Und doch wirkt der Tag alles andere als still. Die Reden, die hier zum Volkstrauertag gehalten werden, verwischen die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart – sie machen klar, dass Erinnerung kein abgeschlossenes Kapitel ist, sondern etwas Dringliches. Wie jedes Jahr haben die Stadt Halle und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge zur zentralen Gedenkveranstaltung geladen. Stadträte, Landtagsabgeordnete, Vertreter der Polizei, Reservistenkameradschaft, Halloren und zahlreiche Bürgerinnen und Bürger sind gekommen. Der Weg führt anschließend zur Skulptur „Die Endlose Straße“ – einem eindringlichen Mahnmal aus zwanzig Tonfiguren, geschaffen von Richard Horn vor 45 Jahren. Angeführt vom „Gevatter Tod“ ziehen die Gestalten schweigend ins Ungewisse. Genau hier werden die Kränze niedergelegt – und genau hier wird deutlich, wie sehr dieser Tag seine Aktualität zurückgewonnen hat. Die Skulpturengruppe mit ihren expressiven Figuren, die den Schrecken des 20. Jahrhunderts einfangen, erhält an diesem Tag eine besonders starke Resonanz. Ihre Botschaft ist zeitlos: Krieg, Flucht, Gewalt und Verlust gehören nicht der Vergangenheit an. Dass dies alle Anwesenden spüren, merkt man der Stimmung an. Die Figuren scheinen die Trauer wie auch die Verpflichtung zur Verantwortung zu tragen. „Die Endlose Straße“ wird zum stillen Mittelpunkt, zu einem Mahnmal, das nicht nur an Vergangenes erinnert, sondern in die Gegenwart weist.
Zwischen Hoffnung und Bedrohung
Den Anfang der Ansprachen macht Bernhard Bönisch, Vorsitzender des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge in Halle (Saale). Seine Worte sind eindringlich – und erschreckend aktuell. „Vor 80 Jahren endete der Zweiten Weltkrieg“, erinnert Bönisch. Schon dieser Satz öffnet den Erinnerungsraum des Tages weit. Bönisch sagt weiter, er sei immer zuversichtlich gewesen, „dass dies der letzte Krieg auf deutschem Boden war.“ Doch die Realität sieht inzwischen anders aus: „Und jetzt sehen wir uns gezwungen, die Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr zu verbessern, weil wir uns nicht mehr sicher fühlen können.“ Seine Rede nimmt globale Entwicklungen in den Blick, insbesondere religiös motivierte Gewalt. Als Beispiel nennt er die Überfälle auf Christen in Nigeria zu Pfingsten, bei denen viele Menschen während eines Gottesdienstes getötet wurden. Solche Übergriffe habe es zwar immer gegeben, doch „in den letzten Jahren häufen sich leider derartige Ereignisse.“ Besonders aufmerksam hören die Besucherinnen und Besucher zu, als Bönisch erklärt, dass sich US-Präsident Donald Trump nun berufen fühle, die Christen in Nigeria zu schützen. Er habe der nigerianischen Regierung Unterstützung „auch mit militärischen Mitteln“ zugesagt. Aus der lokalen Bevölkerung kämen jedoch warnende Stimmen: Die Terroristen bedrohten nicht nur Christen, sondern alle Menschen. Mit dieser Einschätzung schlägt Bönisch eine Brücke des Volkstrauertages in die globalen Macht- und Konfliktkonstellationen der Gegenwart.
Die wiederkehrende Aktualität des Gedenkens
Als Nächster tritt René Rebenstorf, Beigeordneter für Stadtentwicklung, Umwelt und Sicherheit, ans Rednerpult. Seine Worte rücken das Gedenken selbst in den Mittelpunkt – und die Frage, was es heute bedeutet. „Am Volkstrauertag kommen wir zusammen um an jene zu Erinnern, die Opfer von Gewalt, Krieg und Terrorismus geworden sind“, sagt Rebenstorf. Und er betont, dass sich dieses Gedenken „nicht nur auf bestimmte Opfergruppen“ beschränken dürfe. Es solle „allumfassend sein“. Rebenstorf schildert eindringlich, wie beklemmend es sei, mitzuerleben, „welche Aktualität der Volkstrauertag wieder hat“. Die Zahl der Toten in den Konflikten weltweit gehe in die Hunderttausende: „Und jeder dieser Toten ist ein toter Mensch zu viel. Wir müssen uns eingestehen, dass die Menschheit viel zu wenig aus der Vergangenheit gelernt hat.“ Aus seiner Sicht haben viele Nachgeborene die Friedenszeit seit 1945 in Europa nicht mehr bewusst vor Augen. Die aktuellen geopolitischen Entwicklungen zeigten, „wie fragil unser Frieden, unsere Freiheit ist. Wie gefährdet auch unsere Demokratie ist.“ Rebenstorf schließt mit deutlichen Worten: Der Volkstrauertag mahne, „Frieden ist keine Selbstverständlichkeit.“

Verantwortung statt Vergessen
Der wohl umfangreichste und politisch tiefste Beitrag kommt von Armin Willingmann, stellvertretender Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt. Seine Rede verbindet historische Verantwortung, moralische Verpflichtung und die Herausforderungen der Gegenwart. „Wir erinnern uns an die Millionen Männer, Frauen und Kinder, denen durch Krieg und Verfolgung das Leben genommen wurde“, beginnt er – und erweitert die Perspektive auf Soldaten, Zurückgelassene und Trauernde. Der Zweite Weltkrieg habe „mit unvorstellbarer Grausamkeit“ gewütet und sei „von deutschem Boden ausgegangen“. Willingmann benennt klar die Ursachen: eine „wahnsinnige, rassistische und antisemitische Ideologie“, deren Auswüchse in den Vernichtungslagern ihren Tiefpunkt erreicht hätten. Dort hätten Kultur und Menschlichkeit „ihren tiefsten Punkt der Weltgeschichte“ erklommen. Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle und politische Gegner wurden Opfer eines „entmenschlichten Systems“.
Besonders eindringlich wirkt Willingmanns Hinweis, dass diese Gräueltaten nicht im luftleeren Raum geschehen seien. „Sie wurden durch Zustimmung, Wegsehen und Schweigen in großen Teilen der damaligen deutschen Gesellschaft möglich.“ Eine schmerzhafte Erkenntnis – aber eine notwendige, wie er betont. Er erinnert außerdem daran, dass die Stimmen der Zeitzeugen leiser werden. Ihre Berichte seien entscheidend, um die Bedeutung von Krieg zu begreifen, denn für viele Menschen liege das Ausmaß des Leids außerhalb jedes Vorstellungsvermögens. Darum müsse man sich stets bewusst machen, dass hinter jedem Opfer ein Name stehe, ein Leben, ein Schicksal. Die Toten mahnten, „dass Frieden, Freiheit und Demokratie nicht als selbstverständlich zu betrachten“ seien.
Willingmann schlägt den Bogen in die Gegenwart: Frieden und Freiheit seien im 80. Jahr nach Kriegsende „bedroht wie lange nicht“. Der Ukrainekrieg mache dies sichtbar. Man habe sich zu lange der Illusion hingegeben, Krieg sei aus Europa verschwunden. „Doch spätestens seit dem russischen Angriff auf die Ukraine müssen wir uns eingestehen: wir haben uns geirrt.“ Die Übergriffe auf ukrainische Zivilisten, russische Drohnen, Kampfjets und Cyberangriffe zeigten deutlich, worum es gehe. Russland verfolge nicht das Ziel einer vermeintlichen Entnazifizierung, sondern „die Ausweitung russischen Territoriums“. Die Aufgabe der europäischen Gesellschaft sei es, „diesen imperialen Ambitionen entgegenzutreten“. Liberale Demokratien müssten sich gegen äußere Aggressionen verteidigen – aber auch im Inneren wachsam bleiben.
Für Willingmann ist klar: Demokratie muss an mehreren Fronten geschützt werden. „Sie verlangt von uns, sich Antidemokraten und Verfassungsfeinden entgegenzustellen.“ Meinungsvielfalt und freiheitliche Demokratie seien Grundlagen des Friedens. Dagegen stehe das „Gift des Nationalismus und der Fremdenfeindlichkeit“, das Deutschland zwei Weltkriege entfesseln ließ. Er erinnert daran, dass es nicht die deutsche Bevölkerung gewesen sei, die den Nazi-Terror beendet habe, sondern die Alliierten. Und er unterstreicht einen seiner eindrucksvollsten Sätze: „Demokratien führen keine Kriege gegeneinander.“ Der Volkstrauertag solle daher nicht nur gedenken, sondern Verantwortung im Hier und Jetzt einfordern. „Er konfrontiert uns mit dem Schrecken vergangener Tage und gibt uns den Auftrag, aus den Erinnerungen zu lernen.“
Die historische Entwicklung des Gedenktages
Der Volkstrauertag selbst hat eine bewegte Geschichte. 1922 erstmals begangen, sollte er Versöhnung, Verständigung und Frieden fördern. Doch die Nationalsozialisten missbrauchten den Tag, machten ihn zum Staatsfeiertag und benannten ihn in Heldengedenktag um. Nach 1945 stellte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge den ursprünglichen Charakter wieder her; seit 1950 wird der Tag stets zwei Wochen vor dem ersten Advent begangen. Heute erinnert der Volkstrauertag an die Opfer beider Weltkriege, an die Verbrechen des Nationalsozialismus und der stalinistischen Diktatur – und zunehmend auch an die Opfer moderner Konflikte weltweit.





















Ein Aufzug bestehend fast nur aus Uniformen. Neben den Soldaten das Kirchenornat für das Seelenheil, wie damals schon beim Schweijk vom Hašek, und dazwischen noch ein paar Salzwerkeruniformen. Die wollen auch dazu gehören, wenn der große Wind der Geschichte mal wieder über die Friedhöfe zieht.
Ein wahrer Geisteraufmarsch, nur leider allzu lebendig.
„Demokratien führen keine Kriege gegeneinander“…sie begehen nur gemeinschaftlich einen Völkermord wie in Gaza…
Und Herr Bönisch erzählt das Märchen der notwendigen Aufrüstung für Frieden…