Couchsurfer und Reiseblogger: der Hallesche Pietismus
Die kulturhistorische Jahresausstellung 2018 in den Franckeschen Stiftungen überrascht mit dem Ansatz, dass die Grundlagen einer modernen Reisekultur Anfang des 18. Jahrhunderts unter anderem durch den Halleschen Pietismus gelegt wurden. Die Schau „Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert“ ist vom 18. März bis 16. September 2018 zu sehen und wird zur Francke-Feier am 17. März offiziell eröffnet.
Zwei Jahre lang haben die Kuratoren Dr. Claus Veltmann und Anne Schröder-Kahnt die Sammlungen der Franckeschen Stiftungen mit der einzigen, am originalen Standort vollständig erhaltenen barocken Wunderkammer, der Bibliothek, die in ihrer Entstehungszeit zu den bedeutendsten ihrer Zeit zählte, und dem einzigartigen Archiv intensiv zum Thema Reise befragt. Dieses liegt in der Geschichte des Halleschen Pietismus fest verankert. Unter der Leitung von August Hermann Francke (1663–1727) begann man an der Wende zum 18. Jahrhundert systematisch Beziehungen bis in den sibirischen Teil Russlands, nach Südindien und Nordamerika aufzubauen, die sich stabil über Jahrhunderte weiterentwickelten. In sieben Räumen der Ausstellungsetage des Historischen Waisenhauses zeigen die Kuratoren, wie die Fülle an gesammelten Informationen und ein engmaschiges Netz von Kontakten gezielt und sehr erfolgreich für die Vorbereitung und Durchführung von Erkundungs-, Pilger- und Missionsreisen eingesetzt wurden. Die Schau wagt dabei den Versuch, dieses System auch für erzwungene Reisen, etwa die Flucht der protestantischen böhmischen Exulanten zu überprüfen, die von Mitarbeitern Franckes betreut wurden.
Vorbereitung
Die umfassende Vorbereitung auf eine Reise der halleschen Gesandten durch Deutschland, Europa oder nach Übersee begann in den 1698 angelegten Sammlungen der Schulstadt August Hermann Franckes in Halle, dem Halleschen Waisenhaus. Wörterbücher für gängige und seltene Sprachen, Dialoge für den Alltag in einer fremden Kultur und vor allem vielfältige authentische Berichte mit ausführlichen Natur- und Ortsbeschreibungen, Reflexionen über Religion und Mission, aber auch mit der Beschreibung interessanter Begegnungen und scheinbar nebensächlicher Alltagserlebnisse zeichneten bei gründlichem Studium ein reales Bild der Reise und des Zielorts:
Diese Form der Reisedokumentation kennzeichnet insbesondere die Reisen der Pietisten zu Beginn des 18. Jahrhunderts,
beurteilt Dr. Heike Liebau die Faktenlage in Bezug auf die Dänisch-Halleschen Mission im südindischen Tranquebar im wissenschaftlichen Katalog zur Ausstellung.
Reisebegleiter
Wie die aufmerksam verfassten Berichte einem Reiseführer gleichkamen, wird in der Ausstellung am Beispiel Georg Heinrich Neubauers (1666–1725) deutlich, der als Bauleiter der Schulstadt in Halle gilt. Auf einer Hollandreise 1697/98 sammelte er in einem der fortschrittlichsten Staaten der Zeit Informationen zur Armenfürsorge und lieferte in seinem Bericht umfänglichste Informationen über das Reisen an sich. Die Schiffsreise sei sehr bequem, doch »solle man in Holland mit dem Glockenschlag pünktlich bei der Schuyte sein, da diese dann nach ungefähr einer Minute des Läutens sofort ablegt. Zwar könne man hinterherrennen, das Boot einholen und noch aufgenommen werden, allein sei man dann so verschwitzt, dass man sich auf dem Boot eine Erkältung zuziehe, die der Gesundheit einen »Stoß« gebe, »den sie ihr Lebtage nicht wieder verwinden« werde, zitiert Prof. Dr. Holger Zaunstöck in seinem Katalogbeitrag den Reisebericht Neubauers. Dieser war bereits 1706 in der »Nützlichen und nöthigen Handleitung Zu Wohlanständigen Sitten« veröffentlich worden, die sich an die Zöglinge des Königlichen Pädagogiums in Halle richtete. Damit war die Hollandreise Neubauers zu einem Reise-Lehrstück für die Söhne des preußischen Bürgertums und Adels geworden.
Reiseroute und Andenken
Amsterdam zählte wie London, Wien, Venedig oder Archangelsk zu den Relaisstationen des Halleschen Pietismus. An diesen Knotenpunkten des sorgsam aufgebauten und intensiv gepflegten Transport und Kommunikationsnetzwerkes wurden die halleschen Reisenden, Emissäre oder Missionare versorgt, hier wurden Informationen ausgetauscht und, ausgestattet mit dem Notwendigsten, machten sie sich wieder auf den Weg. Die Reise von Stephan Schultz (1714–1776) in den Orient deckt in der Ausstellung die Entstehungsgeschichte und Langlebigkeit einer Reiseroute auf. 1699 war der einflussreiche Diplomat am Englischen Hof, Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), als Pilger in Jerusalem angekommen. Seine Route nahm 40 Jahre später der hallesche Emissär Stephan Schultz (1714–1776). Mitbringsel wie der Reisepass des Sultans Mahmuds I. (1696–1754) und eine erst kürzlich identifizierte Zeichnung der Grabeskirche in der Kunst- und Naturalienkammer belegen das Erreichen seiner Reiseziele.
Reiseapotheke
Der Schutz der Gesundheit komplettiert die Vorbereitung und Durchführung der Reisen Hallescher Pietisten. Das Hallesche Waisenhaus bot hier ein Set zur Selbstmedikation mit Handbuch und kleiner Medizinauswahl feil. Diese Grundausstattung, die körperliches Wohlbefinden und seelische Gesundheit miteinander verband, verkaufte sich äußerst erfolgreich gerade in den weit entfernten Gebieten Russlands und Nordamerikas. Erstmals werden die weltweiten Beziehungen der Medikamentenexpedition des Halleschen Waisenhaues in einer Ausstellung vorgestellt.
Ungewollt unterwegs
Neben Pilger-, Missions-, Forschungs- und Abenteuerreise hat der Hallesche Pietismus auch das erzwungene Reisen im Blick. Heinrich Milde (1676–1739), der Slavist am Halleschen Waisenhaus, betreute im Auftrag Franckes böhmische Auswanderer. Sie zählten zu den letzten Lutheranern, die aufgrund der katholischen Repressionen nur mit dem Nötigsten ihre Heimat verlassen mussten. 1720 hielt sich Milde in der kleinen Exulantenkolonie Ves Panĕ / Wespen auf, einem heutigen Stadtteil von Barby an der Elbe. Er unterrichtete den dortigen Pfarrer in der tschechischen Sprache, so dass dieser den böhmischen Exulanten aus der Bibel vorlesen und sich verständigen konnte. In tiefer Dankbarkeit übergab ihm ein Mitglied dieser Gemeinde einen prachtvoll ausgestatteten tschechischen Bibeldruck von 1537 (Prag). Das Buch war über Generationen in Familienbesitz. In der Ausstellung offenbart es die bewegten Geschichten der versammelten Objekte und knüpft das Band in die Gegenwart.
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