Sechs neue Stolpersteine in Halle (Saale) verlegt – ein Ermordeter hat im Reichstag gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis gestimmt

Der Verein „Zeit-Geschichte(n)“ kümmert sich um die Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte. Knapp 300 “Stolpersteine”, die an Opfer des Nationalsozialistischen Regimes erinnern, konnten dadurch schon verlegt werden. Am Dienstag wurden durch den Künstler Gunter Demnig weitere 6 Steine verlegt.
In der Huttenstraße wird an die Jüdin Darga Brynyck, geb. Lewin, erinnert. Es ist der erste Stein in der Straße. Darga Brynych kam um 1920 mit ihrer Familie aus Westpreußen nach Nietleben. Dort betrieben sie ein Geschäft. “Es war nach unserem Wissen dort die einzige jüdische Familie”, berichtete Anne Kupke Neidhardt vom Zeitgeschichte(n)-Verein. Die Ehe mit ihrem nichtjüdischen Mann Franz Brynych bot ihr zunächst Schutz vor der Deportation. Als ihr Mann im Januar 1944 nach schwerer Krankheit starb, wurde sie nur sechs Wochen später abgeholt und deportiert. Wohin sie gebracht wurde ist unbekannt. Sie überlebte den Holocaust nicht. Nachfahren der Familie leben noch in Deutschland und San Diego. Dadurch konnte beispielsweise in Erfahrung gebracht werden, dass durch die Familie Kartoffeln und Tomaten im damals noch umzäunten Vorgarten angebaut worden sind.
Am Riebeckplatz wurden Gedenksteine für die jüdische Familie Max, Arthur und Karola Mendel verlegt. Dafür waren auch Angehörige aus den Niederlanden und Großbritannien nach Halle gekommen. Am genauen Standort des damaligen Wohnhauses konnten keine Steine in den Boden gebracht werden. Das liegt an der massiven Umgestaltung zu DDR-Zeiten in einen riesigen Verkehrsknoten. Das Gebäude, das sich in der Landwehrstraße befand, existiert heute nicht mehr. Die Steine wurden deshalb vor dem Plattenbau “Am Riebeckplatz 8” verlegt. Die Patenschaft haben Schülerinnen und Schüler des Elisabeth-Gymnasiums und eine Gästeführerin übernommen.
Max Mendel (*1871) hatte drei Kinder: Karola Mendel entkam 1939 in die USA. Hans Mendel war bereits kurz vor 1933 von Berlin nach Holland verzogen, wo er den Holocaust versteckt mit seiner Frau überlebte. Arthur Mendel wurde in der Reichspogromnacht 1938 verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Er wurde mit der Auflage entlassen, sofort das Land zu verlassen. Er flüchtete nach Holland. Dort lebte er in verschiedenen Flüchtlingslagern, zuletzt im Lager Westerbork, wo er als Bibliothekar beschäftigt war. Von dort wurde er mit seiner Frau, die er in Westerbork kennengelernt hatte, nach Theresienstadt gebracht und später weiter nach Auschwitz. Er wurde später für tot erklärt. Max Mendel musste seine Wohnung verlassen, zunächst in ein sog. Judenhaus ziehen, später in das offiziell als Alten- und Siechenheim bezeichnete Gebäude auf dem Gelände des Jüdischen Friedhofs in der Dessauer Straße. Von dort wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er 1942 starb.
“Für uns ist extrem wichtig, dass sich die nächste Generation damit beschäftigt, was hier passiert ist”, sagte Halles Kulturdezernentin Judith Marquardt, “damit jeder weiß, was hier passiert ist und wie man es für die Zukunft verhindern kann.” Der Sohn des mittlerweile verstorbenen Hans Mendel sagte, “das ist ein besonderer Tag für unsere Familiengeschichte.” Er war mit Frau, Sohn und Enkelkindern da. Nach der Verlegung haben sie noch die Stadt Halle erkundet. Schülerinnen des Elisabeth-Gymnasium trugen Gedichte zum Thema Holocaust und Auschwitz vor, die sie selbst formuliert hatten. Auschwitz sei ein “Ort, der schweigt, aber alles sagt.” Konzentrationslager seien keine bloßen Orte, “sondern eine Mahnung, was passiert, wenn Menschlichkeit verloren geht.” Und wie wichtig das Erinnern ist, zeigte sich prompt im Rahmen der kleinen Gedenkfeierlichkeit. Genervt davon fühle sich offenbar der Mitarbeiter einer in dem Gebäude ansässigen Dienstleistungsagentur. “Wird mal Zeit, dass das hier aufgelöst wird”, sagte er ungehalten. Er warte hier jetzt schon zehn Minuten.
Franz Peters (*1888) lebte in der Willy-Brandt-Straße. Er war Reichstagsabgeordneter für die SPD und stimmte am 23.3.1933 gegen das Ermächtigungsgesetz, das quasi die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland bedeutete. Als er im Mai 1933 verhaftet wurde, brach Peters, der in den politisch aufreibenden Jahren zuvor ein Herzleiden entwickelt hatte, zusammen und starb im August 1933. “Wir sind hier, um an einen großen Bürger der Stadt zu erinnern”, sagte die SPD-Landtagsabgeordnete Dr. Katja Paehle. Stolpersteine tragen dazu bei, dass die Namen der Opfer in der Öffentlichkeit bleiben. “Sie sind Verpflichtung und Mahnung zugleich.” Aus dem Ruhrgebiet war eine Enkelin gekommen. Ihren Großvater hat sie nie kennengelernt, sie ist vier Jahre nach dessen Tod geboren. Die vergangenen Wochen seien sehr emotional für sie gewesen, denn die Familiengeschichte wurde aufgearbeitet. Ihr Großvater sei “seelisch und körperlich durch die Nazis zerstört worden.” Deshalb mache ihr das derzeitige Erstarken rechtsextremer Kräfte wie der AfD Angst. “Das ist erschreckend. Ich fühle mich hilflos.” Die frühere Oberbürgermeisterin Ingrid Häußler, der ehemalige Landtagspräsident Rüdiger Fikentscher und der SPD-Fraktionsvorsitzende im Stadtrat Eric Eigendorf, waren gekommen, um Blumen zum Gedenken niederzulegen.
Am Kirchtor wurde ein Stolperstein für Ernst Thiele verlegt. Eine ganz besondere Geschichte. Thiele gehört zur Gruppe der Verleugneten, wie Anne Kupke-Neidhardt berichtete, es ist der erste Gedenkstein dieser Art in Halle. Thiele wurde 1908 in Halle-Trotha geboren. Er stammte aus einfachen Verhältnissen und übte verschiedene berufliche Tätigkeiten aus. Immer wieder geriet er wegen kleinerer Vergehen mit dem Gesetz in Konflikt und wurde 1941 zu drei Jahren Zuchthaus mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Während des Nationalsozialismus wurden Vergehen wie die Thieles härter als zuvor geahndet, er galt nun als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher“ und wurde zur Arbeit in das Konzentrationslager Mauthausen, später nach Auschwitz-Monowitz gebracht, wo er Häftling war und keine Position inne hatte. Thiele überlebte die Lager, wurde jedoch kurz nach der Befreiung, am 15. Mai 1945, erneut festgesetzt und in die Sowjetunion gebracht. Ein Sowjetisches Militärgericht verurteilte ihn 1949 zu 25 Jahren Arbeitsbesserungslager. Vorgeworfen wurde ihm die Beteiligung an Massenverbrechen während des Nationalsozialismus während seiner Zeit als Häftling in Auschwitz. Einen rechtstaatlichen Prozess gab es nie, seine Schuld wurde auch nicht überprüft. 1955 wurde Thiele in die DDR-Haft überstellt, wo er weiter seine Unschuld beteuerte. 1974 wurde Thiele in die Freiheit entlassen. Mehrere tatsächliche Täter, die mit Thiele in sowjetischer Haft waren, sind zu diesem Zeitpunkt schon längst in Freiheit. Nach seiner Haftentlassung zog er zu seiner Schwester in einer Wohnung Am Kirchtor.


















































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