„300 Jahre Neugier“: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen feiert Jubiläum mit großer Ausstellung – über Verfall und Rettung – und was Goethe mit der Ausstellung zu tun hat

Es war ein langer Weg, den die Kunst- und Naturalienkammer im Dachgeschoss des Historischen Waisenhauses der Franckeschen Stiftungen in Halle (Saale) zurückgelegt hat. 1741 eröffnet, war sie über Generationen hinweg ein Ort des Forschens, Schauens und Staunens – ein Mikrokosmos des Wissens. Doch mit der Zeit geriet sie in Vergessenheit. Während der DDR-Zeit setzte der langsame Verfall ein.
„Sie befand sich in einem desaströsen Zustand“, berichtet Prof. Dr. Holger Zaunstöck, Leiter der Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen. „Überall war Taubenkot.“ Fotos von Anfang der 1990er Jahre zeigen einen erschütternden Zustand: zerbrochene Möbel, verstaubte Objekte, schimmelnde Bücher, eine bedrückende Stille, die vom einstigen Glanz nichts mehr erahnen ließ.
Und doch: Die Kammer wurde nicht aufgegeben. Eine Gruppe von Restauratoren, Wissenschaftler:innen und kulturhistorisch Engagierten machte sich daran, das Unmögliche zu wagen: die vollständige Rekonstruktion eines frühneuzeitlichen Museumsraums – mit all seinen Unschärfen, Geheimnissen und historischen Brüchen. 1995 war es schließlich so weit: Die Kammer wurde feierlich wiedereröffnet und der Öffentlichkeit übergeben – exakt 30 Jahre vor der Eröffnung der aktuellen Jubiläumsausstellung.
Ein neues Kapitel: Die Ausstellung „300 Jahre Neugier“
Jetzt, drei Jahrzehnte nach der Wiedereröffnung, wird die Kammer selbst erstmals zum Gegenstand einer eigenen, großen Ausstellung. Unter dem Titel »300 Jahre Neugier. Verborgenes Wissen aus der Wunderkammer« nehmen die Franckeschen Stiftungen ihre Besucher:innen mit auf eine faszinierende Reise durch die Geschichte, die Objekte, das Mobiliar und die Denkstrukturen dieses außergewöhnlichen Ortes. Die Ausstellung ist von Mai 2025 bis Frühjahr 2026 im ersten Obergeschoss des Historischen Waisenhauses zu sehen – also direkt unter dem Originalstandort der Kammer.
„Wir greifen den Blick nach vorn auf, zeigen bisher verborgene Objekte und thematisieren das Mobiliar“, erklärt Prof. Zaunstöck. „Wir hoffen, wir können die Besucher inspirieren und zu neuen Fragen anregen.“ Die Schau vereint rund 150 ausgewählte Exponate mit modernen Präsentationsformen: interaktive Multimediastationen, spielerische Mitmachangebote und Einblicke in aktuelle Debatten der Sammlungsforschung.
Rückblick: Wie alles begann
Der Rundgang beginnt mit einer Retrospektive auf die Zeit um 1990 – auf den Moment der Wiederentdeckung. Großformatige Fotografien im Treppenhaus zeigen den damaligen Zustand der Kammer in all seiner Trostlosigkeit. Es ist ein visueller Schock – aber auch ein starkes Dokument der Rettung und des Bewahrungswillens.
Der erste Ausstellungsraum versetzt die Besucher:innen direkt in das Jahr 1741. Hier erfahren sie, wie die Wunderkammer einst funktionierte – kuratiert vom vielseitigen Gelehrten Gottfried August Gründler, einem Künstler, Naturforscher und Ordnungsfanatiker. Gründler konzipierte die Kammer als „Instrument zur Ehre Gottes“ – aber eben auch als ein frühes Enzyklopädienprojekt, das die Welt im Kleinen nachbilden wollte.
Das Mobiliar als Museumskonzept
Ein Alleinstellungsmerkmal dieser Kammer ist ihr original erhaltenes Mobiliar. Zwischen 1736 und 1741 wurden sechzehn Spezialschränke gebaut – mit einer klaren inneren Ordnung aus Schauvitrinen und Magazinbereichen. Jeder Schrank ist ein kleines Museum für sich, komplett mit geschnitzten Bekrönungen, die den Sammlungsinhalt symbolisch vorstellen.
Diese Möbel sind mehr als Aufbewahrungsmöbel – sie sind die museologische Infrastruktur eines Denkens. Der zweite Raum der Ausstellung beleuchtet diese Möbel erstmals im Detail, zeigt Werkzeichnungen, Holzproben, originale Schlösser und erklärt, wie die Objekte nicht nur „verpackt“, sondern tatsächlich „gezeigt“ wurden.
Indien in der Kammer: Neue Perspektiven auf alte Bilder
Einen kritischen, multiperspektivischen Blick wirft der dritte Raum auf Objekte aus Indien. Eine Schrankbekrönung zeigt einen schwarzen Menschen, der ein Palmblatt beschreibt – eine Darstellung, die viel über koloniale Wahrnehmungen verrät. In Kooperation mit internationalen Wissenschaftler:innen wie Dr. Heike Liebau und Prof. Dr. Daniel Jeyaraj wird erstmals der Darstellung und Rezeption indischer Menschen in der Sammlung nachgegangen.
Dieser Raum ist ein Höhepunkt der Ausstellung – weil er zeigt, dass Wunderkammern nicht nur Wissensspeicher waren, sondern auch Spiegel kolonialer Weltordnungen. Der Blick wird geschärft: für das, was gesammelt wurde – und für das, was ausgespart blieb.
Linnés Systema Naturae – zwischen Glaube und Wissenschaft
Im vierten Raum begegnet man der naturwissenschaftlichen Ordnung der Kammer, insbesondere Gründlers Anwendung des »Systema Naturae« von Carl von Linné – eine museale Sensation. Es war das erste Mal weltweit, dass dieses System der biologischen Klassifikation in einem Museum angewendet wurde. Dass dies ausgerechnet im pietistisch geprägten Halle geschah, mag überraschen – zeigt aber, wie offen religiös gebundene Bildung für moderne Wissenschaft war.
Der Knochen eines Walfisches dient als Beispiel: Seine Platzierung, Kategorisierung und Präsentation folgten nicht willkürlicher Schauästhetik, sondern dem Anspruch auf Rationalität. Das Staunen wurde gelenkt – hin zur göttlichen Schöpfungsordnung.
Goethes Merkur und das „Steinkind“ – Objekte mit Geschichte
Wie lebendig Sammlungen sind, zeigt der fünfte Raum: Hier stehen zwei Objekte im Mittelpunkt, deren Geschichten für sich Romane erzählen könnten. Zum einen die Rückkehr einer metallenen Merkur-Statuette, die Johann Wolfgang von Goethe 1802 in der Kammer sah und für seine eigene Antikensammlung in Weimar anforderte. Nun kehrt sie – leihweise – zurück an ihren Ursprungsort.
Zum anderen das sogenannte „Steinkind“ – ein kalzifizierter Fötus im Körper einer Frau, der lange als ethnografisches Modell missinterpretiert wurde. Eingeordnet war es zunächst als Modell der wilden von Amerika (So bezeichnete man damals die Ureinwohner), neuere Forschungen haben aber ergeben, was es wirklich ist. Denn das Modell stammt ursprünglich aus Dessau, befand sich dort in einer privaten Wunderkammer eines Arztes. Einige Exponate gelangen schließlich nach Halle. Auch ein umfangreicher und handgemalter Katalog gehörte dazu. Und hierin konnte schließlich das Modell gefunden und zugeordnet werden.
Es sind solche Objekte, die den Forschergeist der Ausstellung befeuern: Sie geben Antworten – und werfen zugleich neue Fragen auf.
Eine Anleitung zum Staunen: Die Wunderkammer als Inszenierung
Im sechsten Raum erleben Besucher:innen einen interaktiven Rundgang, basierend auf einer Quelle von 1741: der Anweisung für die »Herumführer« – frühe Museumsführer, die Gäste durch die Kammer leiteten. Die Ausstellung inszeniert diese historische Führung neu – mit Licht, Klang und Erzählungen, die den Besuch um 1741 lebendig werden lassen.
Es ist eine Reise in das museale Erleben vergangener Jahrhunderte – und eine Erinnerung daran, dass Ausstellungskultur auch immer eine Form der Inszenierung, der Erzählung, ja: der Dramaturgie ist.
Wunderkammern heute: Netzwerk und digitale Zugänge
Der siebte Raum blickt schließlich in die Gegenwart und Zukunft: Mit der „Alliance of Early Universal Museums“ (AEUM), einem Netzwerk von Sammlungen in Deutschland, Österreich, Italien und den Niederlanden, ist die Kammer von Halle heute Teil einer neuen Bewegung. Ziel ist es, historische Sammlungen zu bewahren, kritisch zu reflektieren und zeitgemäß weiterzudenken.
Eine digitale Erweiterung der Ausstellung erlaubt es, auch außerhalb Halles tief in die Sammlung einzutauchen – mit 3D-Modellen, Audioführungen, Interviews, historischen Videos und digitalen Rekonstruktionen. Die Wunderkammer wird so zum hybriden Ort: zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen analogem Staunen und digitalem Wissen.
Fazit: Ein Museum über das Museum
Mit der Ausstellung »300 Jahre Neugier« gelingt den Franckeschen Stiftungen ein doppelter Coup: Sie würdigen nicht nur eines der ältesten musealen Konzepte Europas, sondern machen es zugleich für eine neue Generation verständlich und erlebbar. Die Schau erzählt von Neugier und Ordnung, von Wissen und Irrtum, von Göttlichem und Weltlichem – und davon, dass Wunderkammern nie bloß Sammlungen waren, sondern Denk- und Erfahrungsräume.
Wer die Ausstellung besucht, wird die Kammer im Dachgeschoss nie wieder so sehen wie zuvor.
























Der Wal ist aber kein Fisch