56.000 Menschen im Land sind betroffen – Verdopplung bis 2026: Sachsen-Anhalt legt eine Demenz-Strategie vor
Am vergangenen Freitag verwandelte sich das Stadthaus in Halle (Saale) in einen Ort intensiver fachlicher Begegnung. Zur Landesfachkonferenz, die ganz im Zeichen der neuen Demenzstrategie Sachsen-Anhalts stand, reisten zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter aus Pflege, Medizin, Wissenschaft, Politik, Wohlfahrt, Verwaltung und Selbsthilfe an. Die Tagung, die von Vorträgen, Diskussionsrunden und vielfältigen Fachimpulsen geprägt war, rückte vor allem die nun erstmals vorliegende Demenzstrategie des Landes in den Mittelpunkt. Sie wurde am Dienstag zuvor vom Landeskabinett beschlossen und markiert einen Einschnitt im Umgang mit einer Erkrankung, die immer mehr Menschen und Familien betrifft. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Rund 56.000 Menschen in Sachsen-Anhalt leben derzeit mit einer Demenz. Damit ist etwa jede 38. Person betroffen – mehr als in jedem anderen Bundesland. Für die kommenden Jahrzehnte gehen Experten davon aus, dass sich diese Zahl bis 2060 verdoppeln wird. Kaum ein Bereich des sozialen oder medizinischen Lebens bleibt davon unberührt. Entsprechend groß war die Erwartungshaltung an eine Strategie, die nicht nur Absichtserklärungen formuliert, sondern einen verlässlichen Rahmen schafft, um Teilhabe, Würde und Selbstbestimmung der Betroffenen zu sichern und gleichzeitig eine zukunftsfähige Versorgung vorzubereiten.
Ein Land im demografischen Brennpunkt
Sachsen-Anhalt steht in besonderer Weise im Zentrum des demografischen Wandels. Die Bevölkerung altert, und mit dem Alter steigt das Risiko einer dementiellen Erkrankung deutlich an. Die Zahl von 56.000 betroffenen Menschen ist nicht nur statistische Größe, sondern Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität: Menschen verlieren Orientierung, Alltagsfähigkeiten und gewohnte Sicherheit – und Familien geraten unter Druck, oft bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Dass die Zahl der Betroffenen in den kommenden Jahrzehnten weiter steigen wird, ist eine Prognose, die alle Planungsprozesse prägt. Ohne strategisches Handeln drohen Versorgungslücken, eine Überforderung der pflegenden Angehörigen und wachsende Herausforderungen für Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser. Die neue Strategie will dem entgegenwirken und frühzeitig Strukturen schaffen, die der Entwicklung standhalten können.

Die politische Botschaft: „Demenz ist mehr als ein medizinischer Begriff“
Die Landesfachkonferenz wurde durch Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne eröffnet, die in ihrer Rede die Tragweite der Erkrankung eindringlich beschrieb. „Das Thema treibt uns um“, stellte sie fest und machte deutlich, dass Demenz weit über die medizinische Dimension hinausgeht. Sie betreffe Denken, Handeln und Fühlen – jene Fähigkeiten, die Menschen im Kern ausmachen. Für die Betroffenen bedeute die Erkrankung einen schleichenden Verlust von Orientierung und Selbstständigkeit, für Angehörige eine dauerhafte Herausforderung, die den Alltag vollständig verändern kann. „Kaum jemand bleibt im Laufe seines Lebens unberührt davon“, hielt Grimm-Benne fest. Dabei sprach sie nicht nur über Belastungen, sondern auch über gesellschaftliche Verantwortung. Da es trotz medizinischer Fortschritte noch keine nachhaltige Behandlung gebe – auch wenn Forschungseinrichtungen wie der hallesche Weinberg Campus erste erkennbare Fortschritte verzeichneten –, müsse die Gesellschaft andere Formen der Antwort finden: durch Zuwendung, Wissen, Solidarität und tragfähige Strukturen. Die Ministerin erinnerte zugleich daran, wie wichtig menschliche Nähe und Zusammenhalt sind und dass Menschen mit Demenz möglichst lange im eigenen Zuhause leben möchten. Um das zu ermöglichen, brauche es flächendeckende Unterstützungsangebote sowie verlässliche Beratung, die Betroffene und Angehörige im Alltag stärkt.
700 Menschen aus dem ganzen Land am Konzept beteiligt
Dass die neue Strategie eine breite Basis besitzt, zeigt sich schon an ihrem Entstehungsprozess. Rund 700 Akteurinnen und Akteure aus allen Landkreisen und kreisfreien Städten haben daran mitgearbeitet. Die Beiträge reichten von Pflegefachpersonen über Ärztinnen und Sozialverbände bis hin zu Wissenschaftseinrichtungen und Kommunalverwaltungen. Besonders bemerkenswert ist die Beteiligung der Menschen, um die es in erster Linie geht: Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen waren ebenfalls Teil der Erarbeitung. Dieser partizipative Ansatz wurde während der Konferenz immer wieder hervorgehoben. Er macht die Strategie zu einem Dokument, das nicht in erster Linie für, sondern mit den Betroffenen entwickelt wurde. Es ist ein Papier, das die praktische Realität aufgreift und sich nicht auf allgemeine Formulierungen beschränkt. Dass in einem derart komplexen Bereich 40 Ziele definiert wurden, zeigt, wie vielschichtig das Thema ist – und wie ernsthaft der Wille zur Veränderung verfolgt wird.
Im Zentrum der Konferenz: Die vier Handlungsfelder der Demenzstrategie
Die Demenzstrategie gliedert sich in vier große Handlungsfelder, die alle Bereiche des Lebens und der Versorgung miteinander verzahnen sollen. Jedes dieser Felder trägt einen Teil dazu bei, die Lebenssituation von Betroffenen spürbar zu verbessern und die Infrastruktur des Landes demenzsensibel weiterzuentwickeln.
Gesellschaftliche Teilhabe: Demenzfreundliche Lebenswelten schaffen
Ein zentraler Gedanke der Strategie ist die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe. Menschen mit Demenz sollen trotz fortschreitender Erkrankung weiterhin Möglichkeiten zur Begegnung, Orientierung und Mitwirkung haben. Dies bedeutet, dass Lebensräume – von Wohnquartieren über Freizeiteinrichtungen bis hin zu öffentlichen Gebäuden – so gestaltet werden müssen, dass sie Sicherheit und Orientierung bieten. Ebenso wichtig ist die Sensibilisierung der Öffentlichkeit, damit Unsicherheiten im Umgang mit Betroffenen abgebaut werden. Gleichzeitig spielen regionale Initiativen eine tragende Rolle: Begegnungsorte sollen erweitert, Nachbarschaften gestärkt und Akteure aus verschiedenen Bereichen enger vernetzt werden. Die Konferenz machte deutlich, dass Teilhabe nicht automatischer Bestandteil des Lebens ist, sondern aktiv ermöglicht werden muss – und dass demenzfreundliche Lebenswelten erst durch bewusstes Handeln entstehen.
Medizinische und pflegerische Versorgung weiterentwickeln
Die medizinische und pflegerische Versorgung gehört zu den komplexesten Bereichen der Strategie. Sie umfasst den gesamten Weg von der Diagnostik über Therapie und Betreuung bis zur palliativen Versorgung. Ziel ist es, Versorgungslücken aufzuspüren und Schritt für Schritt zu schließen. Dabei sollen Betroffene und ihre Angehörigen konsequent in Planungsprozesse einbezogen werden, damit ihre Erfahrungen und Bedarfe in die Entwicklung neuer Angebote einfließen. Die Konferenz diskutierte intensiv über die Herausforderungen im Alltag vieler Familien: unübersichtliche Zuständigkeiten, regionale Unterschiede, lange Wartezeiten auf ärztliche Termine oder Beratungsangebote und häufig auch ein Mangel an spezialisierten Fachkräften. Die Strategie soll hier eine bessere Verknüpfung der Versorgungsebenen ermöglichen. Sie setzt zudem auf eine systematische Stärkung der Fachkompetenz in allen Bereichen, um die Qualität der Versorgung langfristig zu sichern.
Unterstützung von Menschen mit Demenz und ihren Familien
Viele Angehörige übernehmen über Jahre hinweg die Hauptlast der Betreuung. Ihre Situation steht daher im Mittelpunkt dieses Handlungsfeldes. Die Strategie will wohnortnahe, niedrigschwellige Beratungsangebote ausbauen, Selbsthilfegruppen stärken und neue Austauschformate auf den Weg bringen. Auch die Frage, wie Pflege und Beruf besser miteinander vereinbart werden können, spielte während der Konferenz eine wichtige Rolle. Nach vielen Gesprächen im Rahmenprogramm wurde deutlich, wie groß die Entlastungsbedarfe sind. Angehörige benötigen nicht nur Informationen, sondern auch praktische Unterstützung – etwa durch Alltagsbegleitung oder niederschwellige Betreuungsangebote. Die Strategie verspricht hier einen Ausbau der Strukturen, damit Familien nicht mehr nur auf informelle oder zufällige Unterstützungsnetzwerke angewiesen sind.
Forschung: Innovationen für die Versorgung von morgen
Das vierte Handlungsfeld richtet sich auf die Zukunft und fördert wissenschaftliche Aktivitäten, die Versorgung und Prävention weiterentwickeln sollen. Besonders wichtig ist dabei, dass sich die Forschung stärker an den Bedürfnissen der Betroffenen orientiert. Projekte, die ihre Perspektiven einbeziehen, sollen intensiver unterstützt werden. Gleichzeitig ist der Aufbau eines regionalen Forschungsnetzwerks vorgesehen, das akademische Einrichtungen und Praxiseinrichtungen enger verbindet. Die Konferenz zeigte, dass bereits heute zahlreiche Projekte im Land laufen, die sich mit Assistenzsystemen, Diagnostik, Versorgungsketten oder präventiven Ansätzen befassen. Die neue Strategie verstetigt diese Entwicklung und schafft eine Grundlage, damit Forschungsergebnisse schneller in der Praxis ankommen.

Landeskompetenzzentrum Demenz: Motor der Umsetzung
Eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der neuen Strategie übernimmt das Landeskompetenzzentrum Demenz an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Projektkoordinatorin Dr. Anja Bieber betonte während der Konferenz: „Als Landeskompetenzzentrum Demenz unterstützen wir die Akteure der verschiedenen Bereiche bei der Umsetzung der Demenzstrategie. Dazu gehören Schulungsformate, die Bereitstellung von Informationen, die Koordinierung von Maßnahmen sowie die Förderung der Kommunikation über die gesellschaftlichen Ebenen hinweg. Das Wohl von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen bleibt dabei die Richtschnur aller Aktivitäten.“ Bieber verwies darauf, dass nun die Phase der konkreten Umsetzung beginne und dass diese durch die weitere zweijährige Finanzierung gesichert sei. Langfristig müsse das Kompetenzzentrum in eine dauerhafte Struktur überführt werden, um die bis dahin aufgebauten Netzwerke zu erhalten und weiterzuentwickeln.
Die Perspektive der Pflegekassen: „Ein großer und wichtiger Meilenstein“
Die gesetzlichen Pflegekassen sehen in der Strategie einen wichtigen Schritt, wie Corinna Beutel von der AOK Sachsen-Anhalt unterstrich. Sie bezeichnete die Demenzstrategie als „großen und wichtigen Meilenstein“, da sie die Basis schaffe, damit Kommunen, Pflegekassen und weitere Akteure verlässlich zusammenarbeiten können. Sie hob hervor, dass die Menschen mit ihren individuellen Krankheitsverläufen künftig noch stärker in den Mittelpunkt gestellt werden müssten. Beutel machte aber auch deutlich, dass die Zukunft der Demenzstrategie nicht allein in Förderprogrammen liegen könne. Vielmehr müsse sie langfristig in institutionelle Strukturen überführt werden, damit sie nachhaltig wirken kann. Die partizipative Erarbeitung, bei der sowohl Expertinnen als auch Betroffene mitgewirkt haben, bezeichnete sie als besonderen Qualitätsaspekt der Strategie.

Die Rolle der Kommunen: Halles Blick auf die Stadtentwicklung
Die kommunale Perspektive brachte Halles Sozialdezernentin Katharina Brederlow ein. Sie betonte, wie eng Stadt und Kompetenzzentrum zusammenarbeiten, und stellte klar, dass Demenz längst auch ein Thema der Stadtentwicklung ist. Während Halle an der Fortschreibung des Integrierten Stadtentwicklungskonzeptes arbeitet, spielt die Frage eine wichtige Rolle, wie sich eine Stadt verändern muss, damit ältere Menschen mit den Risiken einer Demenz weiterhin gut und sicher leben können. Brederlow wies auf Herausforderungen hin: die angespannte finanzielle Lage vieler Kommunen und den kommenden Generationenwechsel im Kompetenznetzwerk, weil zahlreiche Fachkräfte in den Ruhestand gehen werden. Trotz dieser Schwierigkeiten hoffe die Stadt, bestehende Projekte fortsetzen zu können. In ihrer Einschätzung wurde deutlich, dass Kommunen in der Umsetzung der Strategie eine zentrale Rolle spielen – gleichwohl brauchen sie dafür verlässliche Rahmenbedingungen.
Ein Tag voller Austausch
Die Landesfachkonferenz war nicht nur ein Ort des Zuhörens, sondern auch ein Raum intensiver Diskussion. In verschiedenen Fachforen wurde über die Herausforderungen der Diagnostik, die Lücken zwischen ambulanten und stationären Angeboten, die Versorgung im ländlichen Raum, die Bedeutung frühzeitiger Beratung und die Rolle der Alltagsbegleiter gesprochen. Auch die Frage, wie Krankenhäuser demenzsensibel gestaltet werden können, fand große Aufmerksamkeit. Im Austausch wurde immer wieder deutlich, wie sehr die beteiligten Akteure an Schnittstellen arbeiten und wie häufig Kommunikations- und Informationsverluste zu Belastungen führen. Die neue Strategie wurde daher vielerorts als Chance wahrgenommen, diese unterschiedlichen Ebenen besser miteinander zu verknüpfen. Besonders positiv hervorzuheben war der Dialog zwischen Praxis und Forschung, der in Zukunft noch enger werden soll. „Das wichtigste sind ja die Gespräche untereinander in den Pausen“, hatte Katharina Brederlow im Vorfeld gesagt.
Eine Strategie für alle: Demenz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Die Diskussionen der Konferenz machten klar, dass Demenz nicht allein ein medizinisches oder pflegerisches Thema ist. Sie berührt nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens: Banken, Supermärkte, Behörden, Vereine, Stadtplanung, Verkehrsunternehmen, Kirchengemeinden und Arbeitgeber gleichermaßen. Die neue Strategie richtet sich deshalb ausdrücklich an die gesamte Gesellschaft. Sie möchte Wissen vermitteln, Berührungsängste abbauen und dafür sorgen, dass Menschen mit Demenz möglichst lange ihren Alltag selbst gestalten können. Dabei wurde erkennbar, wie wichtig es ist, dass die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Verantwortung übernehmen. Demenzfreundliche Lebenswelten entstehen nicht von selbst, sondern nur, wenn Wissen geteilt, Strukturen angepasst und Begegnungen gefördert werden. Ein solches Bewusstsein zu schaffen, ist eines der übergeordneten Ziele der Strategie.
Die Demenzstrategie ist abrufbar unter: https://www.demenz-sachsen-anhalt.de/demenzstrategie_sachsen_anhalt.pdf










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